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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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es gehen?«, rief er. »Amerika?«
    Clément, mit dem sie überallhin gefahren wäre.
    Das plat du jour kommt. Eine dicke Scheibe von etwas, das aussieht wie ein Zwieback, in einer wässrigen, braunen Soße schwimmt und mit feiner Ironie gâteau de viande à la mode getauft worden ist. Die Gemüsebeilage besteht aus dünnen Streifen rutabaga . Sie kennt rutabaga , ein furchtbarer Fremdling in der französischen Küche, aus dem Internat: rutabaga ist die Steckrübe. Sie isst mit Widerwillen, denkt an das Essen in Plasonne und wie anders das Leben hier in der Stadt ist. Die Besatzung hat die Verhältnisse umgekehrt – die Hauptstadt leidet unter Mangel, die Provinz schöpft aus dem Vollen. Wie mag es inmitten all dieser Armut um Clément und seine Schwester bestellt sein?
    Irgendetwas lässt sie von ihrem Teller hochblicken. Draußen auf dem Platz ist ein Auto aufgetaucht: Ein schwarzer Citroën Traction Avant parkt jetzt gegenüber von dem Café. Durchs Fenster kann sie die zwei weißen Winkel am Kühlergrill sehen, und hinter der Windschutzscheibe die Silhouetten der Insassen. Was wollen sie? Was beobachten sie? Panik brodelt knapp unter der Oberfläche ihrer äußeren Gelassenheit. Warum sind sie hier? Beobachten sie das Café? Was, wenn sie plötzlich reinkommen und alle im Lokal überprüfen? Was, wenn noch andere in den Seitenstraßen warten und sie mitten in eine rafle gerät? Was, wenn …
    »Was wollen die?«, fragt sie den Kellner, doch wie soll der Mann das wissen? Er reagiert mit einem pariserischen Achselzucken. »Wer weiß?«
    Die Insassen des Wagens haben sich nicht gerührt, sitzen bloß da und gucken, während das träge Leben im Café weiter abläuft. Sie zwingt noch ein paar Bissen herunter, nimmt dann ihren Koffer und geht ins Untergeschoss zur Damentoilette, einem übel riechenden Raum mit nur einer Kabine und Stehklo. Die Tür lässt sich nicht verriegeln, aber ihr bleibt keine andere Wahl, und außerdem hat sie unter den Gästen keine Frauen gesehen. Sie stellt den Koffer auf den Boden und klappt ihn auf. In einer im Futter eingenähten Tasche stecken die beiden Kristalle, noch immer eingewickelt in ihrem kleinen Bett aus Watte. Rasch, mit nervösen Fingern, macht sie das kleine Päckchen zurecht, streift den Schlüpfer herunter und geht in die Hocke, die Beine unbeholfen gespreizt, um die Kristalle wieder in sich reinzuschieben. Sie spürt keine Spur von diesem unerwarteten und köstlichen Kitzel, den sie beim ersten Mal empfunden hat: Diesmal fühlt es sich an wie eine unangenehme medizinische Prozedur, das notgedrungene Einführen von etwas Unförmigem. Vorsichtig richtet sie sich auf und bewegt Hüften und Oberschenkel, um sicherzugehen, dass das Ding auch richtig sitzt.
    Was würde Benoît sagen, wenn er es wüsste? Wahrscheinlich irgendeinen derben Witz machen. Oder seine Hilfe anbieten. Auf einmal überkommt sie, allein in dieser dreckigen Kabine, einsam und verlassen mitten in Paris, der Wunsch, ihn wiederzusehen. Alles wäre vergeben. Seine verwirrten und verwirrenden Aufmerksamkeiten wären willkommen. Sie würde ihn ranlassen, wenn er das wollte; alles wäre besser als das hier.
    Die vorübergehende Schwäche wird überwunden. Unter dem Waschbecken steht eine Kiste mit Putzutensilien. Sie stellt sie hochkant, steigt darauf und hebt den Deckel vom Spülkasten ab. Sie muss die Radioröhren vorläufig loswerden. Ein anderes Versteck ist nicht in Sicht, aber sie kann die Dinger an die Unterseite des Deckels kleben, wie sie es in Beaulieu gelernt hat, und sie irgendwann später wiederholen. »Es sei denn, die haben inzwischen den Klempner gerufen«, sagte der Ausbilder. Er meinte es als Witz, aber so komisch kommt es ihr jetzt nicht vor. Nichts kommt ihr komisch vor. Angst vertreibt allen Humor.
    Sie schiebt den Deckel wieder auf den Kasten, steigt von der Kiste und versucht, sich zu sammeln. Sie frischt sogar ihr Make-up in dem gesprungenen, angelaufenen Spiegel auf, geht dann wieder nach oben und isst ihren Teller leer. Der Citroën ist noch da. »Die scheinen ja nicht viel zu tun zu haben«, bemerkt sie, als sie die Rechnung bezahlt.
    »Kann man nie wissen«, erwidert der Kellner vorsichtig.
    Mit dem Koffer in der Hand geht sie zur Tür, hinaus in die feuchte Kälte, wo der Citroën mit seinen anonymen Insassen wartet. Ihre Holzabsätze klappern über den Asphalt wie rasche Trommelschläge. Ihr Gang ist selbstbewusst, ihre öffentliche Fassade lässt weder die Furcht in ihrem Innern

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