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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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bewegt.
    Wellenmechanik ist nicht mit newtonscher Mechanik zu vergleichen , hatte Clément ihr einmal erklärt. Bei der Wellenmechanik musst du alle Vorstellung von Gewissheit aufgeben. Damals hatte sie keine Ahnung, was er damit meinte; jetzt liegt es für sie klar auf der Hand. Gib alle Vorstellung von Gewissheit auf.
    Sie fährt mit dem Aufzug in den obersten Stock, wo mitten an einer imposanten Tür der Buchstabe G prangt, über einem Messingschild mit dem Namen Pelletier . Als sie klingelt, öffnet eine Haushälterin, eine unwirsche und runzelige Gestalt, die Jahre damit verbracht haben muss, unerwünschte Besucher abzuweisen. Sie wägt Alice’ Frage ab, als wäre es eine Art Affront. » Mam’selle Pelletier ist nicht zu Hause.«
    »Kommt sie bald zurück?«
    »Ich bin über Mam’selles Pläne nicht unterrichtet.«
    Alice lächelt. Sie muss das Vertrauen dieser Frau gewinnen, und wenn nur für ein paar Minuten. »Wie schade. Ich hätte sie so gern überrascht. Und Monsieur Clément, ist der vielleicht zu Hause?«
    »Er ist da, ja.«
    Die Antwort löst eine Flut der Erleichterung aus. »Könnten Sie ihn bitte herrufen?«
    Die Frau ist unschlüssig. »Wen darf ich melden …?«
    »Ich möchte ihn überraschen, ja? Mal sehen, ob er sich an mich erinnert. Ich hab ihn seit vielen Jahren nicht gesehen. Wir sind alte Freunde, über unsere Familien, aus Genf. Als junges Mädchen hab ich für ihn geschwärmt.«
    Im Gesicht der Frau ringt Verständnis mit Eifersucht. Sie schwärmt offenbar auch für ihn. Schließlich siegt das Mitgefühl, und sie erlaubt Alice, ihr Reich zu betreten. »Ich werde nachfragen, ob er Zeit hat.«
    Alice wartet in der Diele, sitzt auf einem geraden Stuhl wie eine Bedienstete vor einem Vorstellungsgespräch, ihren Koffer auf dem Fußboden neben sich. Sie zupft nervös an einem Nagelhäutchen, denkt an Ned. Ned ist hier, und er ist nicht hier, beides gleichzeitig, wie diese blöde Katze, von der sie ihr erzählt haben – die Katze, die sowohl tot als auch lebendig war. Wie war noch mal der Name? Schrödinger. Schrödingers Katze.
    »Ist doch furchtbar, eine Katze in einen Kasten zu sperren!«, hatte sie protestiert, und die beiden Jungs lachten über ihre Dummheit.
    »Es ist ein Gedankenexperiment, du Dussel!«, rief Ned.
    Verschränkung war der Begriff, den sie benutzten, verschränkte Teilchen. Und jetzt spürt sie die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, von Marian Sutro und Anne-Marie Laroche, von Ned und Madeleine und Clément.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie blickt erschrocken auf. Er ist in dem Korridor aufgetaucht, der von der Diele abgeht, steht ein wenig außerhalb des Lichts, sodass sein Gesicht im Schatten liegt. Aber sie erkennt ihn dennoch, die kleine, präzise Pein des Wiedererkennens, die sie erröten lässt, als wäre sie geohrfeigt worden.
    Sie steht auf, kommt sich albern vor – wieder ein Kind, das sich einem Erwachsenen erklären muss, dem es inzwischen vermutlich egal ist. »Clément«, sagt sie, »ich bin’s. Marian.« Der Name klingt fremd in ihren Ohren, als würde sie über eine andere Person sprechen, über jemanden, den sie und er einmal kannten.
    »Marian?« Seine Miene verändert sich von Verwirrung in etwas, das sich Begreifen nähert, aber mit einem Anflug von banger Befürchtung. »Großer Gott, was machst du denn hier?«
    »Ich dachte, ich schau mal bei dir und Madeleine vorbei.«
    »Ich dachte, du bist in England.«
    »Und ich brauch eine Unterkunft.«
    »Eine Unterkunft? Natürlich kannst du hier wohnen.« Er kommt näher und legt die Hände auf ihre Schultern. Er wirkt kräftiger, wo er einst dünn und ziemlich schlaksig war. Dégingandé , wie ihre Mutter sagte. Sein Gesicht ist in den vier Jahren, seit sie ihn zuletzt gesehen hat, irgendwie härter geworden, wie eine Skulptur, die einmal zu überirdischer Schönheit poliert war und dann mit einem Meißel aufgeraut wurde. Er beugt sich vor und küsst sie auf beide Wangen. »Mein Gott, das ist ja unglaublich«, sagt er. »Meine kleine Marian ist gar nicht mehr so klein.«
    »Ich war damals genauso groß wie jetzt.«
    »Ich meine nicht deine Körpergröße.« Jetzt lächelt er. Vielleicht war die bange Befürchtung nur Einbildung, eine optische Täuschung. Sein Lächeln ist so wie in ihrer Erinnerung, wenn er sich über alles amüsieren konnte, sogar über Ernsthaftes; wenn sein Mund das Lächeln noch deutlicher machte, dieser Mund, den sie so bewundert hat und noch immer bewundert, wie sie

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