Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Haarbüschel lugen darunter hervor, und seine Lippen sind eingefallen, als hätte er sein Gebiss noch nicht eingesetzt. Im Schatten hinter ihm steht eine Frau im gleichen Alter. »Ich komme von Ricard«, sagt Alice. »Ist Béatrice da?«
»Nein, ist sie nicht.«
»Ist sie arbeiten?«
Der Mann wirft der Frau über die Schulter einen Blick zu, als erhoffte er sich Unterstützung von ihr. »Sie ist fort.« Er will die Tür schließen, doch Alice hält sie weiter auf.
»Ricard schickt mich. Bitte lassen Sie mich rein.«
»Ich hab gesagt, sie ist fort.«
»Sie können mich nicht hier draußen stehen lassen. Ich weiß nicht, wo ich sonst hinsoll.«
Als er nachgibt und die Tür ein Stückchen weiter öffnet, nutzt sie die Gelegenheit und schiebt sich durch die Lücke in die schmale Diele. Es riecht nach Abwasser, der klaustrophobische Gestank von Furcht und Entbehrung hängt in der Luft. Unaufgefordert geht sie ins Wohnzimmer, froh, nicht mehr auf der Straße zu sein, den Blicken von Fremden ausgesetzt. Gardinen verschleiern die Sicht auf die Häuser gegenüber. Eine dicke Flocktapete ziert die Wände, und eine wuchtige Anrichte dominiert den schmalen Raum, der von einem Heiligenbild – einem Herz-Jesu-Bild – gesegnet wird. An der anderen Wand hängt ein gerahmtes Foto von Marschall Pétain.
»Sie müssen wieder gehen«, protestiert der Mann, der hinter ihr herkommt.
Seine Frau sieht, dass ihr Mann sich nicht durchsetzen kann, und ergreift das Wort. »Sie dürfen nicht hierbleiben. Es ist zu gefährlich. Die waren hier und haben nach ihr gesucht. Wir wissen nicht, in was sie verstrickt ist, aber die suchen sie. Vielleicht sind sie Ihnen gefolgt. Gut möglich, dass sie das Haus beobachten …«
»Mir ist niemand gefolgt.«
»Sie müssen gehen.«
»Hören Sie, ich komme gerade aus Toulouse. Mit dem Nachtzug. Ich bin hundemüde, und ich muss mich irgendwo ausruhen. Kann ich nicht hierbleiben, bloß bis morgen? Dann geh ich wieder, und Sie hören nie wieder von mir.«
»Es ist nicht sicher.«
»Ist Béatrice Ihre Tochter?«
Die Frau nickt. »Meine Tochter, ja.«
»Sie ist fort«, sagt der Mann wieder. »Und Sie müssen jetzt auch gehen. Verstehen Sie nicht?«
Alice blickt sie an, sieht die Ablehnung in den unerbittlichen Gesichtern. Der Albtraum ist wahr geworden: Sie kann nirgendwohin. Sie stellt den Koffer auf den Boden. »Kann ich mich einen Moment setzen?«
Die Frau saugt die Lippen ein und beobachtet sie, als ob sie irgendeinen faulen Trick befürchtet. »Lass sie sich ein wenig ausruhen«, sagt der Mann. »Mach ihr eine Tasse Kaffee.«
Einen Moment lang spielt sich zwischen den beiden ein unausgesprochener Streit ab, ein Blickwechsel, in dem sich der Konflikt eines ganzen Ehelebens spiegelt.
»Aber danach geht sie.«
Sobald seine Frau aus dem Zimmer ist, behält der Mann sie weiter im Auge, wie ein Gefängniswärter, der eine Gefangene bewacht. Alice setzt sich auf einen der unbequemen Polsterstühle. Sie fühlt sich schwach vor Müdigkeit, aber sie muss nachdenken, was sie als Nächstes tun wird. Die Aussicht, sich ein Hotel oder eine Pension zu suchen, behagt ihr gar nicht. Ihr Name würde registriert werden. Sie würde ihre Papiere von feindlichen Augen kontrollieren lassen müssen. Sie würde dem Blick der Behörden ausgesetzt, so schutzlos wie ein Nachttier, das ans grelle Tageslicht gezerrt wird. Aber vielleicht kann sie versuchen, direkt mit Yvette Kontakt aufzunehmen. Vielleicht wäre das die Lösung. Oder die Adresse, die Gabrielle ihr gegeben hat – konnte sie der trauen?
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen Schwierigkeiten mache«, sagt sie zu dem Mann.
»Sind Sie eine Freundin von Béatrice?«
»Die Freundin eines Freundes.«
Er nickt. Irgendetwas in seinen Augen verrät Mitgefühl. »Denken Sie nicht, ich will nicht helfen, aber meine Frau, verstehen Sie? Sie kriegt es mit der Angst. Daran sind die Priester schuld, die setzen ihr alle möglichen Flausen in den Kopf, was sie machen soll und was nicht. Béatrice lässt sich von denen nichts sagen, genau wie ich. Aber meine Frau …«
»Ich verstehe.«
»Wenn es nach mir ginge …« Er blickt weg, verlegen, versucht, seine Schwäche zu rechtfertigen. »Ich war früher bei der Eisenbahn. Gewerkschaftler, mein ganzes Leben …«
Sie denkt an die Adresse, die Gabrielle ihr gegeben hat. Kann sie es wagen, sich Fremden auf Gedeih und Verderb auszuliefern? Und dann denkt sie an die andere Möglichkeit, die, die sich ihr geradezu anbietet.
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