Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Pullover an und blickt dabei immer wieder zurück zu dem Haus.
»Der würde Ihnen hübsch stehen«, sagt die Standfrau.
Alice lächelt und überlegt kurz, ob sie das Stück kaufen soll, legt es aber wieder hin und geht dann weiter zum Friedhof. Etliche Leute kommen und gehen durch das Tor, und einigen ist das Leid ins Gesicht geätzt. An einem Blumenstand neben dem Eingang kauft sie einen kümmerlichen Strauß Anemonen, um sich eine Art Alibi zu verschaffen, ehe sie durch das Tor geht. Sie folgt zielstrebig einem der Wege, vorbei an verschnörkelten Gedenksteinen und andächtigen, weinenden Engeln, bis sie ein kahles Grab findet, wo sie ihre Blumen ablegen kann. Die Inschrift lautet Jules Auvergne, poète . Sie hat noch nie von ihm gehört. Haben Blumen für unbekannte Tote von unbekannten Lebenden irgendeine Bedeutung im Jenseits? Sie geht den Weg zurück, den sie gekommen ist, passiert wieder den Markt und steuert dann auf das Café gegenüber von dem Haus zu, in dem Yvette wohnt, beobachtet die Leute auf der Straße, taxiert sie, versucht, die eine Frage zu beantworten, die beantwortet werden muss: Steht Yvettes Wohnung unter Beobachtung?
Sie setzt sich an einen Fenstertisch, bestellt eine Tasse Kaffee und liest in ihrem Buch. Die Zeit verstreicht. Am Nachbartisch unterhalten sich zwei junge Mädchen mit leisen, empörten Stimmen über einen Jungen. Er ist offenbar ein Saukerl, un salaud , der mit zwei Mädchen gleichzeitig geht. Sollen sie die Opfer aufklären? Die Debatte dauert an, ohne dass ein Ergebnis erzielt wird. Draußen vor dem Fenster spielen sich ganz alltägliche, zufällige Straßenszenen ab: Frauen bleiben auf einen Plausch stehen und jammern und klagen; an den Marktständen kommen und gehen die Leute. In einer impasse , die schräg gegenüber von der Straße abgeht, spielen Kinder Fangen, drei Mädchen und ein kleinerer Junge, ohne sich um die Welt um sie herum zu scheren. »Du bist!«, rufen sie jedes Mal, wenn einer abgeklatscht wird, um dann in alle Richtungen auseinanderzurennen, weg von demjenigen, der gerade dran ist. Ab und an geht die Tür von Yvettes Mietshaus auf, und jemand kommt heraus, bahnt sich einen Weg durch die spielenden Kinder. Kurz vor halb elf tritt eine Gestalt aus dem Haus, und es ist Yvette. Plötzlich ist sie da, huscht hinaus ins Tageslicht. Sie trägt ein tristes, braunes Kleid, eine beigefarbene gilet über die Schultern geworfen. Sie hastet an den Kindern vorbei und verschwindet in der impasse .
Alice lässt sich die Rechnung bringen. Kein Grund zur Eile, sagt sie sich. Die Maus wird in ihr Nest zurückkehren. Und tatsächlich, nur wenige Minuten später taucht Yvette wieder auf, eine braune Einkaufstüte an die Brust gedrückt.
Alice lässt etwas Trinkgeld auf dem Tisch liegen, schnappt sich ihre Handtasche und geht nach draußen. Auf der anderen Straßenseite kramt Yvette in ihrer Tasche herum, steckt dann einen Schlüssel ins Schloss. Bemüht, keinen hastigen Eindruck zu machen, überquert Alice die Straße und erreicht den Hauseingang gerade rechtzeitig, um die sich schließende Tür abzufangen und hineinzuschlüpfen. Gleich darauf fällt die Tür, von irgendeinem Schließmechanismus gezogen, laut hinter ihr ins Schloss. Das Treppenhaus ist düster, nur durch ein staubiges Oberlicht erhellt. Unter der Treppe stehen zwei Fahrräder und ein ramponierter Kinderwagen. Yvette steigt bereits die Treppe hinauf, schenkt der Fremden, die gleich hinter ihr hereingekommen ist, kaum Beachtung.
»He!«, sagt Alice. »Ich bin’s.«
Yvette packt den Handlauf und dreht sich um. Selbst in der Dunkelheit kann Alice die Angst in den weit aufgerissenen Augen sehen. »Wer ist da?«
»Können wir reden?«, fragt Alice.
Wiedererkennen zeichnet sich ab. »Was machst du hier? Geh weg. Ich will dich nicht sehen.«
Alice geht die Treppe hoch auf die Frau zu. Von draußen ist das Kreischen der spielenden Kinder zu hören, fröhliche, alltägliche Geräusche. Drinnen diese plötzliche, unerwartete Begegnung von Schatten. »Ich bin hier, um nach dem Rechten zu sehen. Wo können wir reden?«
»Du kannst nicht hierherkommen.«
»Bist du allein?«
»Ich geh jetzt.«
Sie dreht sich um und will die Treppe weiter hochgehen. Alice hält sie am Arm fest, packt mit den Fingern den zerbrechlichen Ellbogen. »Lass uns reden. Es ist niemand da. Lass uns hier reden. Wie alte Bekannte. Wer bist du zurzeit? Ich bin Anne-Marie Laroche. Wer bist du?«
»Yvette«, antwortet die Frau dumpf.
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