Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
nun kam sie sich noch mehr wie eine Versagerin vor als zu der Zeit, da er noch bei uns war.
Sie redete nie über ihn und schaute uns kaum in die Augen, so als hätte sie Angst, durchschaut zu werden, und alles, was passierte, wäre ihre Schuld. Sie kümmerte sich nicht um sich selbst, als müsste alles für uns aufgespart werden. Ich weiß noch, dass Julie und Hester anfangs bis weit in die Nacht flüsterten und viel weinten, plötzlich und ohne Vorwarnung, als hätte irgendetwas sie wieder daran erinnert. Schon sehr bald fragten sie nicht mehr, wann er nach Hause käme, denn Mutter antwortete ihnen nicht und tat, als hätte sie nichts gehört. Julie brüstete sich manchmal damit, dass er in Afrika wohltätige Arbeit verrichte, einmal behauptete sie sogar, sie hätte ihn im Fernsehen gesehen, wie er Säcke mit Lebensmitteln verteilte. Sie war es, die am meisten darunter litt und am meisten weinte. Er ging ihr nicht aus dem Kopf, manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und rief nach ihm, sagte dann, sie hätte ihn die Treppe hochkommen hören oder in der Tür stehen sehen. Oder sie bildete sich ein, sie hätte ihn auf der Straße gesehen, lief zu ihm – und zupfte einen Fremden am Ärmel.
Julie und Hester taten sofort, was man ihnen sagte, als würde nur ein böses Wort die ganze Welt zum Einsturz bringen. Was mich angeht, so glaube ich, war ich sehr froh, dass wir einander nun endlich ganz für uns hatten, ohne Verstohlenheit oder das Risiko eines Verrats oder das ständig nagende Misstrauen. Es waren furchtlose, ereignislose Zeiten, und wir merkten einfach nicht, dass Mutter anfing, den Verstand zu verlieren. Deshalb waren wir schockiert, aber irgendwie nicht überrascht, als sie eines Nachts kurz nach Julies Auszug nur in Unterwäsche und mit einem leeren Koffer in der Hand auf der Straße aufgegriffen wurde.
Als ich sie im Krankenhaus besuchte, murmelte sie Psalmen und erkannte mich nicht. Hester kam, wann immer sie konnte, aus Birmingham und erzählte mir so ziemlich dasselbe, wobei sie hinzufügte, wie ich mich zu erinnern meine, man könne ja nie wissen, es sei durchaus möglich, dass sie eines Abends plötzlich aufwachte und sich fragte, wo wir waren und was aus uns geworden war. Oft sprach ich mit Julie, die zu der Zeit ihren zweiten Sekretärinnen-Kurs abschloss und sie jedes Wochenende besuchte. Sie sagte mir nur, ihr Zustand sei unverändert. Ich vermute, sie glaubte, wie ich jetzt, dass über solche Dinge nichts zu sagen war und ist, von niemandem.
Dann kam der Krebs. Sie überlebte nicht lange. Bei der Beerdigung sagte ich zu Hester, es sei eine »Erlösung«. Zuerst reagierte sie nicht, dann fragte sie, wie man sich des Werts irgendeines Lebens je sicher sein könne. Julie war einfach überwältigt, während der kurzen, nur symbolisch religiösen Kremationszeremonie hatte sie die Augen geschlossen und fasste uns an den Händen. Ihre einzigen Worte, an die ich mich erinnere, waren: »Und betet auch für Vater.« In diesem Augenblick fiel mir wieder ein, um wie viel mehr als Hester und ich sie Vater vermisst hatte. Sie war es gewesen, die um seine Gute-Nacht-Geschichten gebettelt und gestrampelt hatte vor Vergnügen über seine lustigen, dramatischen Stimmen, als hätte es die Ungeduld und die Wutausbrüche nie gegeben.
Eines windigen Tages einige Zeit später stand ich allein im Rosengarten und sah zu, wie Mutters Asche sehr ehrerbietig von einem Mann in einem schwarzen Gehrock verstreut wurde. Wie oft hat er das wohl schon getan, fragte ich mich. In diesem alten, angespannten, entschlossenen Gesicht und den weit offenen, kompromisslosen Augen sah ich, dass die Ehrerbietung aufrichtig und nicht nur um meinetwillen aufgesetzt war. Ich blieb noch eine Weile dort, sah zu, wie die Asche von den Rosenblättern geweht wurde. Als er an mir vorbeikam, nahm er meine Hand und drückte sie mit seinen beiden, und es wirkte merkwürdig unprofessionell für jemanden, der mit einem schlichten, abgeklärten Pragmatismus sein Leben unter Trauernden zubrachte.
Jetzt fällt mir wieder ein, Mutter hatte unseren Vater einmal erwähnt, hatte etwas über »euren Vater in Afrika« gemurmelt und dann abgebrochen. Vielleicht dachte sie, wir, Julie vor allem, wollten uns vorstellen, dass er dort hervorragende und mutige Taten vollbrachte, was viel wichtiger war, als zu Hause zu bleiben und sich um die Familie zu kümmern. Manchmal sagte sie, vielleicht nach einem Kirchgang oder wenn sie im Fernsehen etwas über
Weitere Kostenlose Bücher