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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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christliches Leben gesehen hatte, dass »in der Welt gute Werke zu verrichten seien«. Aber das sagte sie sehr leise, als wäre es eine komische Idee, sich überhaupt vorzustellen, dass so etwas wirklich möglich wäre.
    Eines Tages hatte ein Mann sie besucht, und ich hörte ihre Stimmen stockend im Wohnzimmer, als wären sie alte Freunde, die nicht mehr so recht wussten, was sie einander sagen sollten. Vater sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich hörte Mutter fragen: »Hatte er getrunken?« Und dann, nach einer Pause: »Na, dann hat er sicher nichts gespürt.«
    Ich kann mich nicht erinnern, ob sie mir sagte, dass er tot sei. Aber zu der Zeit war ich nicht viel zu Hause, und die Mädchen waren an diesem Tag woanders, auf einem Ausflug nach Frankreich, glaube ich, und als sie zurückkamen, war ich schon wieder weg. Es war eins der ersten Erlebnisse, die wir nicht miteinander teilten. Als ich ungefähr eine Woche später zurückkam, fand ich sie in der Küche, wo sie fröhlich miteinander Scones buken. Sie lachten, als wäre nichts passiert. Aber es war die Art Gelächter, das man als Schutz gegen das drohende Elend des Schweigens aufrechterhalten muss, als Ausgleich für die Mühe, etwas sowohl Wahres wie Tröstendes zu sagen. Mutters Lachen klang irgendwie hart, fast wie ein Gackern, was, zusammen mit ihrem Schniefen und der Zappeligkeit, das erste Anzeichen dafür war, dass ihr das Leben aus den Händen glitt. Ab und zu umarmte sie Hester und Julie, drückte sie scheinbar ohne Grund. Was soll ich dazu sagen, außer vielleicht, dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, uns zusammen mit allem anderen an die Welt zu verlieren?
    Was gibt es sonst noch zu sagen? Es bestand ein Vertrauen zwischen uns, das nun schon lange nicht mehr geprüft wurde, da wir getrennte Wege gegangen sind, doch wir waren bereits Fremde in unserem gemeinsamen Wissen um Lieblosigkeit, die unerwünscht und wechselhaft ist wie das Wetter am Meer, und jeder Morgen trägt die Dunkelheit bis in den Tag hinein.
    Ich beschloss, Hester diesen Bericht nicht zu schicken, obwohl sie mich gebeten hatte, ihn zu schreiben. Julie könnte ich ihn mit Sicherheit nie zeigen, denn sie führt inzwischen ein Leben, das sie, wie ich befürchte, nicht lange wird aufrechterhalten können.
    Als ich mit Hester sprach, redete ich mich heraus und sagte, ich hätte noch keine Zeit dazu gefunden. »Wie auch immer, vielleicht willst du lieber nicht mehr daran erinnert werden.«
    »So ist es nicht«, erwiderte sie barsch und redete dann unvermittelt davon, dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen und sich ein Cottage kaufen wolle.
    Ich ließ nicht locker. »Für Mutter war das wohl kein großer Spaß, nichts von alledem, oder?«
    »Na ja, ich glaube nicht, dass wir irgendwas am Spaß messen sollten, außer wir wollen uns permanent selber leidtun.«
    Sie hatte das Thema abgeschlossen, und ich stellte mir ihre harten, leidenschaftslosen Augen durch das Funkeln ihrer Brillengläser vor, die von ihnen nicht zu unterscheiden waren. Ich muss sie unbedingt besuchen. Aber will sie mich überhaupt sehen, und was würden wir einander sagen können? Als ich sie gestern anrief, räsonierte ich über den allgemeinen Verfall: all die düsteren und verzweifelten Symptome des Niedergangs, während die Ideologen ihre Phrasendrescherei auf die Spitze trieben und die Schieber und Glücksritter und Zyniker sich an den Trögen mästeten – alles aus einem Artikel, den ich zu der Zeit schrieb. Am Ende sagte sie: »Hast du nicht das Gefühl, Johnny, dass du selber auch manchmal ein paar Phrasen drischst?«
    Nun, da ich mich in der Welt behaupten musste, wusste ich bereits, dass die Vergangenheit entbehrlich war, dass Hester und Julie mir immer weniger bedeuteten, dass ich lernen musste, auch Mutter nach ihrem Tod schnell aus dem Kopf zu bekommen. Der Bericht wurde geschrieben, nicht um die Vergangenheit zu bewahren, sondern um sie aus dem Weg zu schaffen.
    Ein letzter Gedanke, bevor ich das alles hinter mir lasse und mich mit den Dingen beschäftige, die im Hier und Jetzt wichtig sind: Je intensiver ich versucht habe, den Tag des Picknicks wiederaufleben zu lassen, desto häufiger habe ich ihn mit anderen Erlebnissen kombiniert und alles zu einem einzigen Ereignis zusammengefasst. Der Hauptgrund, warum ich ihn Hester nicht schicken werde, ist, dass ich nicht aufhören kann, mich zu fragen, ob sie gesehen hat, wie ich die Tollkirsche in Vaters Sandwich steckte und mit erhobenen Händen auf

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