Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
anmaßend.«
»Na ja, wir ändern uns alle, nicht? Du warst ein wenig dogmatisch in dieser Zeit, wusstest schon genau, was du wolltest, wie man so schön sagt.«
»Bin ich immer noch. Ziemlich eingenommen von mir selber?«
»Wir haben doch nur uns. Von wem können wir denn sonst eingenommen sein? Wichtig ist, dass man Raum für andere schafft, nehme ich an. Du gibst es ja zu, Johnny, du wolltest das alles aus dem Weg haben. Du wolltest dich nicht mit der Vergangenheit belasten.« Sie hielt inne, und ihre Augen wirkten etwas größer. Es war, als hätte sie den Kopf geneigt, um die Lichtreflexionen auf ihren Gläsern zu löschen. Es war eine Frage. Sie fügte nicht hinzu: Und willst es noch immer nicht. Und wolltest es im Grunde nie.
Wir beließen es dabei und redeten über andere Dinge, allerdings noch nicht über Julie. Wir merkten allmählich, dass wir eine ganze Menge nachzuholen hatten. Wir hatten einander kaum gekannt und entdeckten jetzt, dass wir uns vielleicht ganz gut leiden konnten. Der Bericht wurde nicht mehr direkt erwähnt, war aber im Hintergrund immer vorhanden – auch wortwörtlich, auf dem Tisch neben ihrem Lehnsessel, wohin sie ihn gelegt hatte.
Das Wetter zeigte sich von seiner schönsten Herbstseite: ein klarer, blauer Himmel, hohe Wolken und ein stetiger, lauer Wind mit einer Vorahnung von Kälte, die sich heranschleichen wollte, aber noch in Schach gehalten wurde. Der Sommer war feucht gewesen, und das Gras auf den Hügeln war grün und wogte hinunter bis zu den Rändern der glänzenden, üppigen Äcker. Der erste Rauch stieg aus Gehöften und Dörfern, und am frühen Morgen sahen wir die schwachen, zarten Wölkchen unseres Atems.
Das war das Muster unserer Tage. Gleich nach dem Frühstück ein gemeinsamer Spaziergang, ein frühes Mittagessen, den Nachmittag nahm sie sich zum Ausruhen und ich zum Lesen und Arbeiten, und die Abende verbrachten wir wieder gemeinsam. Es war ihr sehr wichtig, gut für mich zu kochen, mir zu zeigen, dass ich eine kompetente, gastfreundliche Schwester hatte, die wusste, was ein großer Bruder an Fürsorge verdient hatte. Ich glaube, unser Wiedersehen machte sie glücklich. Und tatsächlich sagte sie in einem ihrer seltenen spontanen Augenblicke: »Es bedeutet mir viel, Johnny, dass du da bist.«
Sie hatte ein kleines Auto, und am späten Vormittag des zweiten Tages fragte sie mich, ob ich etwas dagegen hätte, mit ihr in ein Gemeindezentrum in der fünf Meilen entfernten Stadt zu fahren, wo tagsüber einige ältere Herrschaften zusammenkämen »für ein Pläuschchen und ein anständiges Mittagessen«. Ich verabschiedete mich vor der Tür des Zentrums von ihr, um einige Einkäufe zu erledigen, und als ich zurückkam, ging ich hinein und sah sie hinter einer Anrichte stehen, Essen ausgeben und entspannt plaudern, als wäre sie unter alten Freunden. Immer wieder war Lachen zu hören. Deutlich konnte man die Zuneigung und Dankbarkeit, ja sogar die Freude sehen, die inmitten von Altersschwäche und Einsamkeit aufkamen. Ich setzte mich so unauffällig, wie ich konnte, in den Aufenthaltsbereich. Brettspiele, ein Schach, mehrere Päckchen Karten, Bingo-Karten und Zeitschriften lagen nach einem Vormittag voller Aktivitäten überall verstreut, und am anderen Ende des Saals setzten sich etwa zwanzig Senioren an Tische, um zu essen. Hester wusch bereits die Töpfe und Pfannen und plauderte mit den anderen Helfern. Ich sah kurz ihr Gesicht, als sie die Brille abnahm, um sie zu putzen. Einen Augenblick dachte ich, sie würde weinen, aber die Tränen kamen von der Hitze in der Küche. Wieder war Lachen zu hören, und Hester warf in einer Geste gespielter Hilflosigkeit die Hände in die Höhe.
Dann ging sie zu den Tischen, und die uralten, gebeugten Köpfe nickten, um ihr zu zeigen, dass das Essen in Ordnung war. Ein alter Mann umfasste ihre Hand mit seinen beiden und schüttelte sie. Als er sie wieder losließ, strich sie ihm über den Rücken und beugte sich zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. So hatte ich Hester noch nie gesehen, unter alten Menschen oder überhaupt unter Menschen. Ich weiß nicht so recht, ob sie wollte, dass ich diese völlig andere Seite an ihr sah. Und dann musste ich unvermittelt an unsere Kindheit denken, daran, wie sie damals gewesen war: der reife, selbstbeherrschte Blick, wenn sie etwas verhindern wollte, die Augenblicke der Freude, wenn wir zum Meer rannten, nur flüchtige Erscheinungen auf dem Pausenhof einer Schule, und diese
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