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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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ihn zuging, als der Zug einfuhr. Sie hat mir zuliebe geschwiegen, und das heißt, sie hat zwischen uns beiden wählen müssen, was sie mir immer übelnehmen wird. Und mir jetzt, da meine Karriere sich entwickelt, noch mehr übelnimmt. »Ach, du bist ja so brillant ! Du bist so klug !«, sagten sie immer, wenn ich sie in ihre Schranken weisen wollte. Ich kann mir nie sicher sein, was zwischen ihnen unausgesprochen blieb, mit Sicherheit viel mehr als nur die Enthüllung, die Hester, weil sie Julie schonen wollte, nicht aussprechen konnte: »Er hasste unseren Vater. Er wollte ihn tot. Uns zuliebe. Mutter zuliebe.« Denn Julie hätte das nie ertragen, eine zerbrochene Liebe bei dem Wenigen, was ihr noch geblieben war.
    Ich fürchte, Hester würde denken, ich hätte das alles falsch gesehen, und es könnte auch nie völlig richtig sein; und vielleicht wäre es auch, je wahrheitsgemäßer, umso weniger heilsam. Falls ich sie besuchte, könnte ich mich denn zurückhalten und nicht über Tyrannei und die Grenzen der Toleranz schwadronieren, über die Bedeutung der Rechtswohltat des Zweifels, über die Bedingungen der Freiheit im Konflikt zwischen dem Einen und den Vielen, über die Grenzen unseres Rechts, anhand dessen, was wir selber zu ertragen bereit sind, darüber zu urteilen, was erträglich ist? Über Julie würden wir gar nicht reden. Ich würde nicht lange bleiben. Ich hätte es eilig zurückzukehren, um einen Abgabetermin einzuhalten, an meinem Buch weiterzuarbeiten. Es wären zu viele Fragen zu stellen, die nie beantwortet werden können: »Hätten wir ihm je verzeihen können? Hast du je mit Julie darüber gesprochen? Wie sehr hat sie ihn auch nach der langen Zeit immer noch geliebt? Wie sehr du? Und was ist mit Mutter? Was ist mit ihrer Liebe zu ihm, die sie irgendwann einmal mit überwältigendem Glück erfüllt haben muss, ihrer Liebe füreinander?«
    Auf all das würde sie wohl nicht antworten wollen. Was man nicht ändern kann, soll man auf sich beruhen lassen. Ich wünsche mir, ich wünsche mir so sehr, ich könnte mir all dessen wirklich sicher sein. Wie sehr berührt sie das inzwischen überhaupt? Während sie versuchte, Julie zu helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, dachte sie da je daran, wie wenig für ihr eigenes Leben übrig bleiben würde – dass alles sehr bald im Nebel des Vergessens versinken würde und dass, wie wahr auch immer, keine Klarheit, kein Verständnis lange bewahrt werden kann? Und dann sehe ich einen Satz, den ich eben geschrieben habe, über die blinde Bestie, die sich in ihrer Höhle suhlt, und höre Hester sagen: »Und du hast diese ganze Klugheit, die du erst noch aufbrauchen musst.«

III
    Und so faselte sich mein Bericht zu einem Schluss. Er wurde vor so langer Zeit geschrieben, und jetzt hat ihn auch Hester endlich gesehen. Am nächsten Morgen fragte ich sie, ob es falsch gewesen sei, dass ich ihn ihr nicht schon früher geschickt hatte – schließlich hatte sie mich gebeten, ihn zu schreiben, an diesem Tag in der Cafeteria des Krankenhauses, wo Mutter irgendwo über uns im Sterben lag. Ich meinte, es sei schon komisch, dass ich ihn überhaupt aufbewahrt hatte, aber vermutlich hätte ich geahnt, dass die Zeit dafür kommen würde. Wie oft, sagte ich, hatte ich einen kurzen Blick auf den Ordner da an der Ecke meines Schreibtisches geworfen und dabei gedacht: Na, das ist jetzt alles aus und vorbei, Gott sei Dank.
    Sie saß ziemlich zusammengesunken in einer grauen Strickjacke und mit gefalteten Händen da, obwohl es ein kalter Morgen war und das Zimmer gut geheizt. Jetzt erkannte ich, wie krank sie gewesen war. Sie sah aus, als hätte sie mehrere Nächte nicht geschlafen. Ihre Augen schauten mich durch diese dicken Brillengläser hindurch an, die ihr einen feindseligen Blick verliehen, als hätte ich sie unterbrochen, und ihre Gedanken wären ganz woanders. So war es wohl in den letzten Wochen und Monaten für sie gewesen, sie hatte dem Tod direkt ins Auge geschaut und alles aufgeboten, was sie an Furchtlosigkeit besaß. Doch Hester war schon immer so, auch als Kind – ergeben und entschlossen, mit dem festen Willen, sich von absolut nichts den Mut rauben zu lassen. Wie hatte es im Bericht geheißen? Wie früh hatte sie gelernt, dass Gott sie nie sexy und hinreißend machen würde?
    Schließlich wandte sie den Blick ab. »Na, das hättest du ja wohl kaum machen können, mit diesem Geständnis darin, oder?«
    »Und alles andere, vielleicht ein bisschen barsch und

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