Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Ernsthaftigkeit, die in den Jahren nach Vaters Verschwinden noch gewachsen war. Sie war es, dachte ich mir, die viel tiefgehender als ich erkannt hatte, wie krank Mutter wurde. Und sie war es, die Julie trösten, sie in den plötzlichen Ausbrüchen von Verlustschmerz und Kummer beruhigen musste. Während ich Hester zusah, verglich ich sie mit dem Kind, das sie zwischen den Zeiten gewesen war, da Lasten geschultert werden mussten, nicht zuletzt die Last ihrer eigenen Person, die nie »sexy und hinreißend« sein würde. Damals wie jetzt war sie, zumindest eine Zeitlang, von dem befreit, was sie so gemacht hatte, wie sie war, damals wie jetzt wurde sie, mit den Worten des Dichters, nicht mehr »an des eignen Lebens Rand geschoben«. Ich hoffte, noch mehr von dieser Hester zu sehen, als sie mich bemerkte und zu mir kam.
»Kein schlechtes Essen, auch wenn ich das selber sage. Möchtest du was?«
Sie trug eine Schürze und wischte sich die Hände daran ab. Ich schüttelte den Kopf und meinte, es sei zu früh für mich und ich wolle sie den anderen nicht wegnehmen und könne sehr gern auch die Zeit in der örtlichen Bibliothek verbringen, an der ich ein paar Straßen entfernt vorbeigekommen war.
»Nein, Johnny. Das ist unsere Zeit. Ich glaube, die schaffen es, auch mal ohne mich auszukommen.«
Wir verließen das Zentrum, und ihre gute Laune blieb. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte, außer sie nach dem Zentrum zu fragen.
»Ich gehe fast jeden Tag hin. Und dann gibt es noch die Ausflüge. Ich fahre da gerne mit. Vor allem ans Meer. Das gefällt ihnen auch. Ein bisschen Plantschen vielleicht. Es wird einem warm ums Herz, wenn man sie so sieht, mit den Schuhen in den Händen, aufgekrempelten Hosen und angehobenen Röcken, wie sie vorsichtig herumstapfen und lachen. Einmal fingen sie an, zu tanzen und zu kreischen, als eine von ihnen sagte, sie sei von einem Krebs gezwickt worden. An diesem Tag wurde auf der gesamten Rückfahrt nur gelacht. Ab und zu besuche ich auch Leute zu Hause. Da fällt mir ein … Hättest du was dagegen, ein bisschen zu warten? Ich muss da noch einen kurzen Abstecher bei jemandem machen …«
Ich wartete vor einem Reihenhaus, bis sie mich rief. »Komm rein, ich will dir Henry vorstellen«, sagte sie.
Im winzigen Wohnzimmer saß ein alter Mann in einem Lehnsessel. Er schaute mich an und sagte: »Na, wen haben wir denn da?« Er spähte zu mir hoch und wischte sich mit zitternder Hand die Mundwinkel. Die Schottenkarodecke rutschte ihm von den Beinen, und Hester wickelte sie ihm wieder um die Knie.
»Das ist mein sehr berühmter Bruder.«
Wieder hatte er Tröpfchen im Mundwinkel, und sie wischte sie mit ihrem Taschentuch weg. »Das ist also nicht mein neuer Pfleger?«
Hester half ihm auf die Beine und in ein Gehgestell. »Na komm, Henry, du weißt doch, dass du das auch sehr gut alleine schaffst …«
Während er davonhumpelte, sagte Hester: »Er kommt in ein Pflegeheim, sobald ein Platz frei wird. In dem Ort, in dem er sechzig Jahre lang gelebt hat. Die meisten davon mit seiner Frau. Schau dich um. Eine Welt der Erinnerungen, sooft er den Kopf hebt …«
Es war alles da. Mitten auf dem Kaminsims ein Silberrahmen mit dem blassen Foto eines eng umschlungenen Paars mit wehenden Haaren und breitem Grinsen, als hätte der Fotograf eben einen schlüpfrigen Witz erzählt. Aus der Sitzgruppe mit braunen Bezügen aus Samtimitat quoll die Polsterung, und überall im Zimmer standen Souvenirvasen, Aschenbecher und Untersetzer und jede Menge kleiner Figuren: diverses Landvolk, ein tanzender Seemann, ein Blumenmädchen, eine Tasse mit Churchill darauf, ein Pferd mit Pflug, ein grinsender Clown mit einem hohen, weißen Hut, und mittendrin einige wilde Tiere, ein Tiger, ein Löwe, ein Krokodil. Die beiden Reproduktionen an den Wänden zeigten ein altes Schiff mit geblähten Segeln auf hoher See und eine Herde Schafe, die an der Flanke eines hohen, zerklüfteten Bergs grasten.
»Die Zähmung des Dschungels«, sagte ich und deutete auf den Tiger.
Hester nickte. »Du siehst es, nicht? In der Küche und im Schlafzimmer sind noch andere Erinnerungsstücke. Drei Fotos seiner Frau im Schlafzimmer, als wollte er, dass ihn nichts von ihr ablenkt. Ein ganzes Leben, von dem ihm jetzt nichts geblieben ist außer Erinnerungen und tiefer, tiefer Verlust. Er wird nicht alles mitnehmen können. Sie war eine wunderbare alte Dame. Ein Lachen pro Minute. Sie vergötterten einander. Ach ja …«
Ich dachte an
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