Die Frau im Fahrstuhl
sehr warm war, trug er Ölzeug. Mein Großvater hatte bei Sauwetter auch immer eine solche Jacke getragen. Als Zöllner hatte er oft nachts gearbeitet. Wenn die Herbststürme um das Haus meiner Großeltern pfiffen, schaute er aus dem Fenster und sagte: »Heute Nacht brauche ich den Ölmantel.«
Da wussten wir dann, dass das Wetter wirklich schlecht war.
So einen Ölmantel trug der Mann an meinem Tisch. Ehe ich noch etwas sagen konnte, nickte er und meinte: »Ich bleibe nur einen Augenblick sitzen, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen.«
Ich war so verblüfft, dass ich nur nickte. Sein Dänisch klang in meinen Ohren etwas ungewohnt, aber er sprach langsam, als wisse er, dass ich keine Dänin war. Vielleicht hatte er gehört, wie ich bestellt hatte.
»Es war damals, als ich noch auf den Färöern wohnte. Ich hatte dort eine Liebste, und die wollte nicht wegziehen. Wir heirateten, und ich zog dorthin. Das Dorf, aus dem sie kam, war klein und hieß Sandvågur. Es war für sein sauberes und frisches Wasser berühmt, das aus einer unterirdischen Quelle oben in den Bergen sprudelte. Am Fuße des Berges kam dieses Quellwasser an die Erdoberfläche. Dort lag das Dorf. In keinem der Nachbardörfer hatten sie so gutes Wasser, und alle waren sie neidisch auf uns. Aber sie schluckten ihren Ärger hinunter und holten sich das gute Trinkwasser bei uns. Die Quelle war ein Treffpunkt, an dem Klatsch und Neuigkeiten ausgetauscht wurden. Aus der ganzen Gegend kamen die Leute, und das Dorf gedieh. Es gab ein Wirtshaus und einen Laden. Mit zunehmendem Wohlstand beschlossen die Dorfbewohner, die Wege zum Dorf auszubauen. Das war auch nötig, denn die bestehenden waren kaum besser als Ziegenpfade. Der Wegebau gab den Dorfbewohnern Arbeit. Alles schien auf bessere Zeiten hinzudeuten, als plötzlich eine Katastrophe eintrat. Wie durch einen bösen Zauber versiegte das Wasser der Quelle. Anfänglich glaubten wir, dass das Wasser zurückkehren würde. Aber das geschah nicht. Die Leute aus den Nachbardörfern blieben aus. Die Käufer verschwanden. Wirtshaus und Laden siechten dahin. Natürlich gruben wir neue Brunnen, aber die gaben nicht dasselbe gute Wasser wie die Quelle.«
Er machte eine kurze Pause, und ich hatte den Eindruck, dass er mich eingehend betrachtete. Gebannt von der Geschichte des Alten saß ich da. Seine Stimme war tief, heiser und monoton. Erstaunt stellte ich fest, dass ich jedes seiner dänischen Worte verstand, aber darüber dachte ich in diesem Augenblick nicht nach. Ich wollte einfach nur, dass er seine Erzählung fortsetzte.
»Die Zuversicht schwand aus dem Dorf. Gewiss sie hatten jetzt neue, schöne Wege, aber niemand benutzte sie. Als alles vollkommen aussichtslos schien, begann meine Frau von ihrem toten Vater zu träumen. Jede Nacht erwachte sie davon, dass er in der Mitte des Zimmers stand und sagte: ›Ich friere. Ihr müsst mich woandershin legen.‹ Erst wollte sie nicht erzählen, was sie bedrückte, aber schließlich konnte sie es nicht mehr für sich behalten. Eines Abends erzählte sie ihrer Mutter und mir von den Besuchen ihres Vaters. ›Du bist verrückt! Dein Vater ist schon fünf Jahre tot! Erzähl das bloß niemandem! Sonst sperren sie dich weg!‹, sagte ihre Mutter. Aber jede Nacht kehrte der Tote mit derselben Botschaft zurück: ›Ich friere. Ihr müsst mich woandershin legen.‹ Schließlich ging meine Frau zum Pfarrer und erzählte ihm von ihren Träumen. Der Pfarrer war ein guter Mann und nahm sie ernst. Zusammen gingen sie zum Grab ihres Vaters. Es lag ganz oben auf dem an einem Hang gelegenen Friedhof mit weiter Aussicht über den Fjord. Den Platz hatte sich ihr Vater selbst ausgesucht, als er gespürt hatte, dass das Ende nahte. Sie sprachen ein Gebet, dann stand der Pfarrer lange mit gesenktem Kopf da. Schließlich schaute er auf und sagte zu meiner Frau: ›Folgendes soll geschehen. Wir öffnen das Grab und legen ihn an eine andere Stelle.‹«
Der Alte machte eine kurze Pause und betrachtete mich erneut. Es überlief mich kalt. Was für eine makabere Geschichte! Gleichzeitig interessierte mich brennend, was dort auf dem windigen Hang vorgefallen war.
»Es war Sommer und deshalb kein Problem, das Grab zu öffnen. Die Totengräber und der Pfarrer taten das an einem Freitagnachmittag. Am Vormittag hatten sie ein Stück entfernt eine frische Grube ausgehoben. Sie fanden den Sarg und konnten ihn ohne Missgeschick anheben. Dabei war ein platschendes Geräusch zu hören. Der Sargboden
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