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Die Frau im Fahrstuhl

Die Frau im Fahrstuhl

Titel: Die Frau im Fahrstuhl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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wahnsinnig froh, dass ich die ganze Vorweihnachtszeit Vollzeit arbeiten konnte. Ich machte so viele Überstunden, wie ich nur konnte. Heiligabend war ich dann fix und fertig. Kurz vor Feierabend setzte ich mich vollkommen erschöpft an genau den Tisch, an dem du heute gesessen hast. Wahrscheinlich nickte ich ein. Plötzlich saß der Alte mit dem Regenmantel da. Er erzählte mir dieselbe Geschichte wie dir. Als er fertig war, rief der Chef mir zu, ich solle abschließen. Ich stand auf und rief zurück, dass ich nur noch den letzten Gast zur Tür begleiten würde. Als ich mich umdrehte, war er verschwunden.«
    Ole lächelte mich erneut an und fuhr sich mit der Hand durch seine dichte Mähne. Ich hatte große Lust, das ebenfalls zu tun, konnte mich aber gerade noch beherrschen.
    »Was, glaubst du, will der Alte? Wieso erzählt er diese Geschichte?«, fragte ich.
    »Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich deute seine Erinnerung als eine Geschichte, aus der man… Zuversicht schöpfen soll.«
    Er verstummte und schien zu zögern. Ich wollte, dass er mir das näher erklärte, und fragte: »Was meinst du damit?«
    »Also, dieses blühende Dorf, das gut von seinem berühmten Wasser lebt. Über Nacht kommt die Katastrophe, als das Wasser verschwindet… und alles kommt wieder in Ordnung, als sie die Wasserader wiederfinden. Optimismus. Trost in größter Verzweiflung. Nach einer Weile heilt die Zeit alle Wunden, und alles ist wieder in Ordnung. So deute ich seine Geschichte.«
    Die Kellnerin kam mit einer neuen Flasche Wein. Während sie eingoss, schwiegen wir. Ich dachte darüber nach, was Ole gesagt hatte. Mir war klar, dass noch eine Frage gestellt werden musste.
    »Wer war dieser alte Mann?«, wollte ich wissen.
    Die Augen meines Kavaliers begannen übermütig zu funkeln. Er beugte sich über den Tisch und antwortete mit dumpfer Stimme: »Er ist ein Geist.«
    »Ein Gespenst! Mach keinen Quatsch!«, rief ich.
    Ein älteres Paar am Nachbartisch schaute vorsichtig in unsere Richtung. Ich senkte die Stimme und flüsterte: »Wie kommst du nur auf diese Idee…? Wieso sollte er ein Geist sein? Glaubst du an Geister?«
    Ole lächelte. Verschwörerisch zwinkerte er mir zu. Was für ein Mann! Mir blieb fast die Luft weg!
    »Tja. Er muss ein Gespenst sein. Er ist nämlich bereits vor sechzig Jahren gestorben«, sagte Ole leichthin.
    Ungläubig starrte ich ihn an. Wollte er mich auf den Arm nehmen?
    »Von uns beiden bin doch wohl ich diejenige, die sich irgendwelche Räuberpistolen ausdenkt«, versuchte ich das Ganze mit einem Scherz abzutun.
    »Vergiss nicht, dass Maler auch Fantasie haben«, konterte er.
    Er war zufrieden mit der Wirkung, die seine Behauptung gehabt hatte, und lehnte sich zurück. Aus der Brusttasche seines Hemds zog er einen dünnen Zigarillo. Er inhalierte genüsslich und blies den Rauch in Ringen an die Decke.
    »Mein Chef erinnerte sich, dass über viele Jahre immer wieder Gäste von dem geheimnisvollen Mann gesprochen hatten. Er begann der Sache nachzugehen und machte schließlich wirklich eine Entdeckung. In der Ecke, in der der Tisch steht, hängt an der Wand eine kleine Bleistiftzeichnung. Sie zeigt einen älteren Mann. Er hat seine Mütze vor sich auf dem Tisch liegen. Den Ölmantel hat er anbehalten. Auf der Rückseite steht sein Name neben der Jahreszahl 1943. Der Alte hieß Viggo Johansen. Er lebte vom Fischfang und Schmuggeln. Hier am Nyhavn war er bekannt wie ein bunter Hund. Während des Krieges brachte er Flüchtlinge nach Schweden. In den letzten Tagen des Kriegs fuhr er mit seinem kleinen Holzboot auf eine Mine. Er und sein Kamerad wurden in die Luft gesprengt. Vom Boot blieb nur noch Kleinholz übrig. Die beiden Leichen wurden jedoch gefunden. Man hat sie begraben.«
    »Wieso hat jemand eine Zeichnung von Viggo angefertigt?«, warf ich ein.
    »Es war üblich, dass Künstler, die die Zeche nicht zahlen konnten, stattdessen ein Gemälde oder eine Zeichnung ablieferten.«
    »Und der Stammgast Viggo saß Modell.«
    »Offenbar.«
    Ole fasste sein Glas am Stiel und hob es an.
    »Lass uns auf Viggo Johansen trinken, der uns zusammengeführt hat«, sagte er.
    »Auf Viggo«, erwiderte ich.
     
    Bis heute weiß ich nicht, ob der Alte in der Weinstube wirklich Viggo Johansen gewesen ist, ein Gespenst, das zum Trost und zur Erbauung trauriger Seelen eine Gespenstergeschichte erzählt. Was ich weiß, ist, dass mein Wochenende in Kopenhagen wunderbar war. Ole gab mir all das, was mir so lange gefehlt

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