Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
Vom Netzwerk:
Alters, sah gut aus und trug Reithosen, obwohl sie kein Pferd besaß. Wenn sie sprach, klang sie sehr selbstsicher und herrisch, ein wenig wie Mrs Shaefer. Das kam daher, dachte Rose, dass amerikanische Frauen keine Hemmungen hatten, sich Männern überlegen zu zeigen.
    Die Zimmer waren geräumig, hatten riesige Kamine und standen voller Eichenmöbel, dennoch entschuldigte sich Mirabella ständig dafür, dass es an Annehmlichkeiten fehle. Sie komme immer Anfang Juni hierher, um der Hitze in ihrer New Yorker Wohnung zu entfliehen. »Sie können sich gar nicht vorstellen«, sagte sie zu Rose, »was das für ein Backofen ist.«

    Dr. Wheeler war nicht da. Mirabella sagte, sie habe ihn seit zwei Jahren nicht zu Gesicht bekommen, aber vor wenigen Tagen habe er ihr geschrieben, seine Freundin Rose sei wohl in den Staaten, und sie könne ihn über eine Adresse in Kalifornien erreichen.
    Harold schien nicht überrascht, er bat nicht einmal darum, den Brief sehen zu dürfen. Er richtete Mirabella Grüße von Shaefer aus und brach dann auf einem der vielen Sofas zusammen. »Ach«, fiel ihm ein, »Jesse bat mich, dich zu erinnern, dass du noch immer sein Poster von Lyndon Johnson als Cowboy hast.«
    Mirabella war sehr gesprächig. Sie erzählte von einer Miss Durant und einer Miss Jenks, die 1910 aus New York gekommen seien und zehn Häuser aufgekauft hätten, darunter auch das, in dem sie nun saßen. Wahrscheinlich waren sie mehr als nur Freundinnen gewesen, obwohl das in jener Zeit niemals nach außen drang. Über dem Hauptkamin hing ein Foto von Miss Jenks. Sie war sehr alt, ihr Mund eine grimmige, bleistiftdünne Linie, und sie trug eine Männermütze. Vor ihr hatte hier eine Musiklehrerin namens Madame Tweedy schockierenderweise mit einem Holzfäller zusammengelebt. Als dieser an einer rätselhaften, klaffenden Halswunde starb, wurde er durch ein Mädchen ersetzt, das dermaßen einem Leoparden glich, gefleckt und zähnefletschend, dass die Dorfbewohner schreiend davonliefen. »Ich habe
irgendwo eine Zeichnung«, sagte Mirabella, sprang auf und begann in den Schubladen zu stöbern.
    »Könnte ich bitte Dr. Wheelers Brief sehen?«, fragte Rose.
    »Später, später«, versprach Mirabella. Als sie die Zeichnung von dem Leopardenmädchen nicht fand, erzählte sie von der unglücklichen Familie McDill, die jenseits des Oswegatchie River gelebt hatte. »Sie hatten vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Zwillingsjungen, einer davon hatte rote Haare.«
    »Hat er gesagt, warum er ständig weiterzieht?«, sagte Rose.
    »Er war erst ein Kind, nicht älter als sechs Jahre, da hatte er offenbar eine tote Wildkatze zum Leben erweckt, die von da an immer den Mond anheulte. Es hieß, er sei vom Teufel besessen. Blanke Idiotie. Die Obrigkeit hat ihn weggebracht, und seine Schwestern wurden Prostituierte.«
    »Ich muss den Brief sehen«, sagte Rose.
    »In jener Zeit lagen die Tragödien einfach in der Luft«, stellte Mirabella fest.
    »Heutzutage auch«, sagte Rose. »Das hat sich nicht geändert.«
    Als Harold aufwachte, gab es etwas zu essen, rosa Lamm, nicht richtig durchgebraten, begleitet von einer Menge grüner Beilagen. Harold sagte: »Jesse hat dich wohl angerufen«, und Mirabella nickte. Das folgende Gespräch drehte sich hauptsächlich um die Shaefers und wie gut Jesse und George ihr Leben
meisterten, abgesehen von dem Problem, dass ihr einziges Kind offenbar drauf und dran war, sich Ärger einzuhandeln.
    »Bleibt nächtelang weg«, sagte Mirabella.
    Harold erwiderte: »Das kann man ihm kaum verdenken.«
    Es dauerte eine Stunde, bis Rose noch einmal Dr. Wheelers Brief zur Sprache bringen konnte; da war Harold schon wieder zum Sofa gestolpert. Nach dem Geschnaufe zu urteilen, das bald darauf den Samtkissen entstieg, versank er wieder im Land der Träume.
    »Tut mir leid, wenn ich lästig bin«, sagte Rose, »aber ich muss diesen Brief sehen.«
    Er war sehr kurz, nur eine Adresse in einer Stadt namens Malibu, die an Rose weitergeleitet werden sollte, und die höfliche Hoffnung, dass es Mirabella gut gehe. Roses Name war nicht einmal großgeschrieben.
    »Wir hatten damals eine schöne Zeit miteinander«, sagte Mirabella. »Einmal fuhren wir alle auf Freds Kosten nach Paris. Jesse … Bob Maitland … und ich.«
    »Wann ist Dr. Wheeler abgefahren?«, fragte Rose.
    »Abgefahren?« Mirabella machte ein verwundertes Gesicht.
    »Er hat geschrieben, er sei hier«, sagte Rose. »Deshalb bin ich ja gekommen. Ich habe in Washington einen Brief

Weitere Kostenlose Bücher