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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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meine Mutter sei weggegangen. Miss Albright hat mich ins Lehrerzimmer mitgenommen, und ich kam mir blöd vor, weil draußen vor dem Fenster Rita Dickens und ihre Freundinnen aus der vierten Klasse aus ihren Schlüpfern Laub rauszogen, das sie sich vorher reingestopft hatten … Sie spielten Kinderkriegen.«
    »Wie originell«, sagte Mirabella.
    »Ich wollte nur sagen, Mutter sei von uns weggegangen, aber Miss Albright verstand von uns gegangen … für immer. Sie hatte ganz glitzerige Augen.«
    Wieder lächelte Mirabella.
    »Ich muss raus, nachdenken«, sagte Rose. »Ich verspreche, dass ich nicht nach Harold suche.«
    Kaum war sie die Stufen hinuntergestiegen, wurde sie von den Schatten verschluckt. Es war, als sei sie wieder klein und laufe los, um Dr. Wheeler im grünen Dämmer zu treffen. Vor sich ahnte sie die graue, unter dem dunkelnden Himmel ungleichmäßige Uferlinie dieses schrecklichen Sees.

    Dr. Wheeler qualmte eine Zigarette. Er starrte nach oben und sagte, der Rauch vermische sich mit der unsichtbaren Anwesenheit derer, die einst gelebt hätten. Sie standen vor dem Grabstein von Mary Eldridge, Mutter zweier Kinder, Ella und Robert, an einem Fieber gestorben am 5. Juni 1868. Rose meinte, die Kinder hätten sicher viel geweint, auch wenn Mrs Eldridge vielleicht keine gute Mutter gewesen sei. Daraufhin warf er ihr vor, sie denke immer nur an ihre eigenen Eltern und immer abfällig. Niemand von uns kann wissen, schalt er, wie unser Tun sich auf andere auswirkt, erst wenn es zu spät ist, und wir dürfen die Schuld an unseren Fehlern nicht anderen zuschieben.
    Die Bäume standen so dicht, dass sie das eiserne Friedhofstor teilweise verdeckten. Rose hatte Schwierigkeiten, es aufzustoßen. Es war keine Kirche zu sehen, nur reihenweise Grabsteine, die sich leicht nach vorn neigten, als marschierten sie Richtung Himmel. Die Vögel in den Zweigen machten einen Radau, der Tote auferweckt hätte.
    Harold tat ihr sehr leid, und sie ärgerte sich, dass sie ihm nicht zugetraut hatte, verheiratet zu sein oder ein großes Unglück erlitten zu haben. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie die Gefühle anderer Menschen und die Gründe für ihre Schwächen zu spüren vermochte. Merkwürdig, dass sie trotz ihrer Menschenkenntnis in Harold nicht den Männertypus gesehen hatte, der eine Ehefrau hatte, schon gar nicht eine, die sich den Garaus gemacht hatte.

    Sie blieb nicht lang auf dem Friedhof, für den Fall, dass Harold auftauchte und zornig wurde. Hätte sie in seiner Haut gesteckt, wäre es ihr auch zuwider gewesen, wenn ihr jemand folgte. Kein Wunder, dass er sie so komisch angesehen hatte, als sie ihm die Geschichte von Mutters Selbstmord erzählt hatte. Sie trat aus dem Tor, schob es wieder zu, setzte sich unter die Bäume und sah zu, wie das Laub immer schwärzer wurde, während das Licht aus dem Himmel wich. Sie spürte eine Mischung aus Traurigkeit und freudiger Erregung, aber schließlich ist das Unglück anderer Menschen immer ergreifender als das eigene.
    Sie wurde gestört von einem plötzlichen Lärm, einem Geräusch zwischen Grunzen und Brüllen, dann folgte ein lautes Knacken von Zweigen. In der Ferne hüpfte ein winziger Lichtstrahl wie ein flatternder Schmetterling über den Boden. Sie duckte sich und wartete darauf, dass die Nacht ihr Beben einstellte.
    Als sie die Stufen zum Haus hochstieg, kam Washington Harold hinter ihr her. »Ich habe dich gesucht«, zischte er. »Ich habe dir gesagt, du sollst nicht rausgehen. Du hättest getötet werden können.«
    Sein von der Taschenlampe beleuchtetes Gesicht sah zerfurcht und wütend aus.
    »Getötet?«, ächzte sie.
    Ob ihr nicht klar sei, dass in der Müllgrube neben dem Friedhof Bären rumschnüffelten?
    »Bären?«, fragte sie. »So wie im Zoo?«

    »Nein, so nicht«, erwiderte er. »Die hier laufen frei rum und haben rote Zähne und Klauen.«
    Wenn Harold die Wahrheit sagte, hätte er nicht sie anzuschreien brauchen. Mirabella hatte kein Wort von wilden Tieren gesagt, aber wahrscheinlich langweilte sie sich hier zu Tode und brauchte ein bisschen Abwechslung. Es war bestimmt nicht lustig, in einem Wald festzusitzen, wo alles Aufregende vor hundert Jahren passiert war.
    »Entschuldigung«, log sie, »Mirabella hat mir abgeraten, rauszugehen, aber ich konnte nicht anders.«
    Harold beruhigte sich, als sie ins Haus traten. Er schenkte ihr ein Glas Wein ein und tätschelte ihre Hand, als meinte er es ernst; trotzdem wusste sie, dass er sie gar nicht

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