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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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wahrnahm. Er machte sich auch nicht die Mühe, sie dem Mann mit der Strickmütze vorzustellen, der nun neben Mirabella am Tisch saß.
    Eine Minute, nachdem sie sich gesetzt hatte, merkte sie, dass der nackte Fuß des Mannes an ihrem Bein rauf und runter rieb. Es störte sie nicht, an so etwas war sie gewöhnt, und außerdem war er sehr großzügig mit Zigaretten. Er hatte buschige Augenbrauen und eine Narbe an der Oberlippe. Ab und zu warf Mirabella ihr einen argwöhnischen Blick zu; die selbstbewusste Frau war verschwunden.
    Sie redeten viel über die Katastrophe des Vietnamkriegs und dass man Präsident Johnson loswerden müsse, je eher, desto besser für alle Beteiligten.
Harold wollte, dass Richard Nixon gewann, denn er kam aus einer Quäkerfamilie, und das war etwas ganz anderes als die alteingesessenen Aristokraten Neuenglands oder die Großgrundbesitzer im Süden. Wo der herstamme, habe man sich den Weg durch den Kontinent mit Kämpfen und Beten gebahnt.
    In Roses Kopf entstand plötzlich das Bild einer Indianerhorde, die einen Berg hinunter auf eine Lichtung zugaloppierte, wo zahllose Menschen auf den Knien lagen.
    Der Mann mit der Mütze – er hatte den komischen Namen Dear Heart, Liebes Herz – war kein Befürworter Nixons, obwohl sie offenbar in derselben Anwaltskanzlei an der Wall Street arbeiteten. Mirabella war der Ansicht, Kennedy werde bei den kalifornischen Vorwahlen einen gewissen McCarthy schlagen. »Er muss einfach«, sagte sie. »Zu unser aller Wohl.«
    »Ich würde nicht drauf wetten«, rief der Mützenmann.
    »Erinnerst du dich an diesen Film«, unterbrach ihn Rose, an Harold gewandt, »wo der kleine Junge neben seiner toten Mutter kauert? Sie war mit einem Tomahawk erschlagen worden. Alles war voller Blut.«
    »Er kann gewinnen, aber er wird nicht lange genug leben, um weiterzumachen«, sagte der Mützenmann. »Die Kubaner haben ihn auf dem Kieker. Das ist ein Fall von ›Wie du mir, so ich dir‹, nach dem, was er
Castro antun wollte. Denkt daran, was letzten Monat in Los Angeles passiert ist…«
    Weder Harold noch Mirabella schienen zu wissen, wovon er sprach.
    »Man hat ihn angeschossen, als er die Universität im San Fernando Valley verließ.«
    »Das war ein Stein, kein Schuss«, widersprach Harold. »Jemand hat einen Ziegelstein von einer Brücke geworfen. Kennedy hat nur einen blauen Fleck an der Wange abbekommen.«
    »In den britischen Nachrichten war es ein Schuss«, sagte Dear Heart, »und die britischen Nachrichten sind sehr genau.« Rose klatschte, aber niemand schloss sich an.
    Später gab Harold sein Vorhaben, im Lieferwagen zu übernachten, auf und sagte, er werde auf dem Sofa schlafen. Er hätte ein Schlafzimmer haben können, aber er bestand darauf, dass er hören müsse, ob sich draußen jemand herumtreibe. Bestimmt sorgte er sich nicht wegen der Bären; Rose glaubte kurz, er denke an Indianer, aber sie hatte zu viel getrunken, um sich zu fürchten. Der Mann mit der Mütze wollte die andere Couch nehmen, für den Fall, dass etwas passierte, aber sie sah den Blick, den er Mirabella zuwarf.
    Sie bekam ein Zimmer mit einem Foto an der Wand, eine Frau, umgeben von neun Kindern. Rose zählte sie. Die Mutter war sehr jung und offensichtlich arm wie eine Kirchenmaus. Mirabella, die sich
die Augen mit einem Kajalstift umrahmt hatte, sagte, die Frau heiße Ethel. Sie zeigte ihr das Waschbecken und den Schalter der Bettlampe und floh.
    Rose hätte gern von Frau zu Frau mit ihr geplaudert. Komisch, dass jemand, der sich so gut schminken konnte, einem Gespräch unter vier Augen so abgeneigt war.

7
    Bevor Harold zu Bett ging, fragte er Mirabella, ob es in Ordnung sei, wenn er länger bliebe, keine weitere Nacht, aber vielleicht noch einen Großteil des nächsten Tages. Es tue ihm gut, bei ihr zu sein und seine Verbundenheit mit Gerhardt zu erneuern, aber noch wichtiger sei es, dass der Rosenbusch über Dollies Grab beschnitten werde. »Er ist zu groß geworden«, sagte er mit brüchiger Stimme. »War zu erwarten.«
    Sie antwortete, er könne bleiben, solange er wolle, unter den herrschenden Umständen brauche sie ihn sogar. Er wusste, was sie meinte. Sie war verrückt nach Gerhardt Kelmann, aber es war keine glückliche Verbindung – er machte ihr Kummer.
    Als er aufwachte, wunderte er sich nicht, dass Kelmann von der Couch neben dem Kamin verschwunden war; nur Mütze und Hose lagen in einem Häufchen vor dem Holzstoß. Er stürzte ein Glas Milch hinunter, nahm sich ein

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