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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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seiner Mutter, wie sie auf das Rothschild Building zuging, den Arm in einer schwarzen, mit falschen Diamanten besetzten Seidenschlinge. Sein zweiter Stiefvater hatte sie zusammengeschlagen, als er eine saftige Rechnung für zwei Bronzepferde erhalten hatte, die sie am Tor ihres Hauses in Long Island hatte aufstellen lassen, Kopien der Pferde vor Sankt Markus in Venedig. Ihr Arm hatte keinen bleibenden Schaden genommen, aber sie kannte keine Hemmungen, wenn es darum ging, Aufmerksamkeit zu erregen. Nur Shaefer hatte verstanden, dass Harolds Nöte von seiner Verlegenheit herrührten, nicht vom Mitleid.
    Das Innere der Turnhalle hatte sich verändert. Es gab keinen Sprungkasten mehr, auch nicht die Reihe der Spinde, wo einmal sein Name gestanden hatte; verschwunden von den Wänden die Fotos der Baseballteams, verschwunden die gelben Seile, die immer von den Deckenhaken baumelten. So schnell wischte die Zeit sein Leben aus, dachte er.
    Als er zurückkehrte, saß Rose draußen auf dem Gras und pulte sich den Dreck zwischen den Zehen heraus. Er fragte, ob sie Hunger habe, und wie immer sagte sie Nein. Als sie neben ihm im Campingbus saß, merkte er, dass sie ihn anstarrte.
    Sie sagte: »Dein Gesicht schaut komisch aus.«

    »Das hat mir schon mancher gesagt«, gab er zurück.
    »Es hat keinen Sinn«, fuhr sie fort, »sich mit dem aufzuhalten, was man nicht ändern kann … davon wird man nur verrückt.«
    Merkwürdig, dachte er, wie gebildet sie manchmal wirkte. Er blickte kurz zu ihr hinüber, und ihr Gesichtsausdruck kam ihm bekannt vor, eine Mischung aus Unbehagen und Tapferkeit. Sie versuchte offenbar nach Kräften, das Beste aus einer enttäuschenden Situation zu machen. Er wurde sich seines eigenen Verhaltens bewusst, seines mangelnden Mitgefühls, seines desinteressierten Tones, wenn sie sich endlos über ihre Kindheit ausließ, und beschloss, das alles wiedergutzumachen. Er wusste weiß Gott besser als die meisten Menschen, wie es sich anfühlte, wenn man unterschätzt wurde.
    »Würdest du gern ins Kino gehen?«, fragte er plötzlich.
    »Ja«, antwortete sie mit glänzenden Augen, »aber nur, wenn du auch willst.« Jetzt war sie glücklich.
    Er fuhr Richtung Cedar Point und zu einem Campingplatz am Hang. Er war gut ausgestattet, wies sogar eine Minigolfanlage und einen großen Swimmingpool auf, in dessen blauem Wasser sich der Himmel spiegelte. Jenseits davon, unterhalb der Campingbusse und Zelte, bedrängte ein Gewirr von Fischerbooten den gleißenden Saum des Eriesees.
    Rose war beeindruckt. Sie starrte auf die Männer in Shorts und die dicken Frauen in ihren Liegestühlen,
wandte sich aber ab von den kreischenden Kindern, die unter den Zedern herumrannten und -purzelten. Irgendwo in der Nähe trommelte ein kleines Kind in einem Hochstuhl mit einem Löffel auf sein Holztablett; er merkte, dass Rose bei dem Geräusch zusammenzuckte und sofort ihre Sonnenbrille aufsetzte. Er hatte den Eindruck, dass sie nicht nur die Sonne ausblendete.
    Obwohl er Hunger hatte, kümmerte er sich zuerst um die Reinlichkeit. Er zeigte auf die Waschküche neben dem Laden und fragte Rose, ob sie Kleidung habe, die gewaschen werden müsse. »Nein«, sagte sie. »Zu viel Sauberkeit macht anfälliger für Bazillen.« Überlegen lächelnd schaute sie zu, wie er das Leintuch von der Matratze zog und die Kissen gegen einen Baumstamm schlug. »Da krabbeln nur Insekten rein«, warnte sie ihn. Dann wanderte sie davon, und das ärgerte ihn, denn er hätte Hilfe brauchen können.
    Als er aus der Waschküche zurückkam, hockte sie in einiger Entfernung vom Campingbus auf dem Gras neben einem älteren Mann mit einem Strohhut. Sie sprachen nicht miteinander. Er war in seinem Sessel zusammengesunken, und Rose schaukelte vor und zurück, den Blick zu Boden gesenkt. Dann erschien ein jüngerer Mann und sagte etwas zu ihr, worauf sie aufstand und ihn in ein Gespräch verwickelte. Sie wirkte lebhaft, die meiste Zeit sprach sie. Einmal hielt sie die Hand hoch und wedelte damit vor dem
Gesicht des Mannes hin und her, als wische sie etwas aus, was sie nicht hören wollte.
    Später fragte Harold sie nach dem alten Knaben in dem Stuhl.
    Sie sagte: »Er heißt Theodore. Er hat mal in England gelebt.«
    Er dachte daran, wie alt der Mann war, und sagte: »Vermutlich hat er einen Haufen Unsinn dahergeschwafelt.«
    »Nein«, berichtigte sie, »eigentlich hat er durchaus vernünftig gesprochen. Er hat gesagt, dass er verfault.«
    »Verfault?«
    »Gehör,

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