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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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Eingeweide, Füße, Sehkraft, Knochen … nichts ist mehr so wie früher.«
    »Jesus«, sagte er. »Offensichtlich kein heiterer Mensch.«
    »Er erwartet nichts Heiteres mehr«, sagte sie, »nicht, seit er alt ist. Es stellt sich dem Leben, wie es eben ist. Er wusste immer, dass er verfaulen würde.«
    »Jesus«, sagte er wieder und bat sie einzusteigen.
    Die Kinoleinwand stand auf einem Feld neben dem Golfplatz. Rose wunderte sich, dass Filme im Freien gezeigt wurden. Der Film hieß Der dritte Mann und handelte von einem Amerikaner, der nach Wien kommt, um seinen besten Freund zu besuchen, doch stellt sich heraus, dass der Freund tot ist, wenn auch noch nicht lang. Diesen schwer zu fassenden Typen spielte Orson Welles, und es endete damit, dass er durch die Kanalisation flüchtete. Harold hatte den
Film schon einmal gesehen und nickte zwischendrin ein. Rose fand ihn wunderbar, verstand aber nicht, warum der Yankee Orson Welles umbringen wollte. Das habe doch keinen Sinn, sagte sie. Erst sucht er endlos nach seinem Freund, und wenn er ihn dann findet, erschießt er ihn. Das sei nicht normal. Außerdem erinnere sie sich nur an zwei Männer, wer denn der dritte gewesen sei? Harold versuchte zu erklären, dass Welles den Bösewicht spiele und den Tod verdiene, aber sie hielt dagegen, wirkliche Freundschaft dürfe nie so enden, egal unter welchen Umständen. Schließlich gab er auf und stimmte ihr zu, nur damit sie still war.
    Bevor sie zu Bett gingen, bat sie um ein Blatt Papier und etwas zu schreiben. Der Füller ihres Vaters sei verschwunden. Er hörte ihren Magen knurren, während sie schrieb. Er hatte ein halbes Hähnchen gegessen, sie nur einen Happen Brot. Er wunderte sich, dass sie nicht wie ein Skelett aussah; er kannte so jemanden. Als sie in den Campingbus stieg, ließ sie das Papier am Feuer liegen. Zu seinem Erstaunen hatte sie etwas Lateinisches draufgeschrieben, wenn auch orthografisch falsch. Recordez Jesus pie, quod sum cause tua via ne me perder illa die. Mühsam übersetzte er: Gedenke, gnädiger Jesus, dass ich der Grund deines Kommens bin, lass mich an jenem Tag nicht untergehen.
    Wieder schlief er schlecht, wachte auf, weil er geträumt hatte, dass er mit Wheeler durch ein Maisfeld
wanderte, geblendet von der Sonne, die auf Wheelers Haar leuchtete, und von der blauen, pulsierenden Ader an seiner Stirn. Sie hatten ein Gespräch geführt, ein wichtiges, aber er wusste nicht mehr, worüber.
     
    Als sie sich am nächsten Nachmittag Chicago näherten, hielt er Rose einen Vortrag über die Stadt, um sie zum Schweigen zu bringen; sie erging sich immer noch endlos über Gott. Ursprünglich habe es Fort Dearborn geheißen, eine Siedlung am Ufer des Michigansees mit nur hundert Einwohnern. Sechzig Jahre später war es umbenannt, beherbergte eine Million Einwohner und war zum größten Agrarhandelsplatz der Welt geworden.
    Sie schien nicht interessiert. Er verstummte und erzählte ihr nicht, dass die Innenstadt 1871 bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Sie hätte nur wieder von den Feuern der Hölle angefangen. Dann fragte sie, was Agrarhandel sei. Er lachte und antwortete nicht, überzeugt, dass sie scherzte.
    Ohne nachzudenken, hielt er in einer Straße im Stadtteil Wicker Park, einer ehemals reichen Wohngegend. Die großen Häuser waren längst in mehrere Wohnungen unterteilt, der Rasen in Stellflächen für Mülleimer und Autos. Rose dachte an die Adresse auf dem Brief und bat ihn, ihr das Haus zu zeigen, wo Wheeler noch vor wenigen Wochen gewohnt hatte.
    »Das ist Zeitverschwendung«, sagte er. »Er ist längst weg.«

    »Ich muss es nur sehen.«
    »Wozu?«
    »Du brauchst nicht mitzukommen«, fauchte sie. »Sag mir nur, wo ich hingehen muss.«
    Stirnrunzelnd zeigte er auf ein Haus, dessen weißer Turm in den kobaltblauen Himmel stach. Sie öffnete die Tür, als eine Schallwelle, gefolgt von donnerndem Gebrüll, die Luft erschütterte. Der Campingbus zitterte. Erschrocken drehte sie sich um und packte ihn am Arm. »Das ist die El«, beruhigte er sie, »nur ein Zug«, und er zeigte auf das Gleis, das in Höhe der Kamine verlief.
    »Kein Wunder, dass er hier wohnen wollte«, sagte sie. »Er und seine Frau haben direkt neben einem Bahnübergang gewohnt … und sein Haus hatte auch einen Turm.«
    »Wheeler hatte keine Frau.«
    »Doch … sie fuhr Fahrrad. Und in der Pommesbude hat sie sich immer vorgedrängt.«
    »Wie sah sie denn aus?«, fragte er, überzeugt, dass sie log.
    »Alt, dick, viele

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