Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
Vom Netzwerk:
haben das Gefühl, dass die Gesellschaft an einer Funktionsstörung leidet, einer so schwerwiegenden und irritierenden, dass ein normaler Politiker da nicht mehr Abhilfe schaffen kann … Nur Kennedy hat die Autorität, die charismatische Autorität …
    Aber jeder weiß, das Charisma etwas Unbeständiges ist, sich womöglich als fragil und wenig anpassungsfähig erweist. Es kann zu Fehlern kommen, und wenn der Zaubermantel einmal zerrissen ist, kann man ihn nie wieder flicken …
    »Ich hatte mal einen Mantel«, plapperte Rose. »Er gehörte meiner Tante. Es stimmt nicht, dass man sie nicht flicken kann, man muss sie nur zu einem Schneider bringen.«
    Gereizt fragte er: »Bist du sicher, dass du keine Angst gehabt hast?«
    »Nein«, sagte sie. »Ich hab mal was drüber gelesen.«
    »Über was? Von wem?«
    »Ich weiß nicht mehr«, sagte sie. »Es ging um Napoleon den Ersten oder Zweiten. Dr. Wheeler hat es mir geschenkt.« Sie glitt in ihren Sitz, schloss die Augen und blendete ihn aus.

10
    Je näher der Lieferwagen Rose Richtung Los Angeles brachte – die traumhafte Überquerung der wacholdergetüpfelten Berge, die Fahrt hinunter ins meergrüne Tiefland, das Durchtauchen schwarzer Wälder auf menschenleeren Straßen –, desto mehr entglitt ihr Dr. Wheeler. Es war beunruhigend. Manchmal, wenn auf beiden Seiten der Straße nur noch zackige Felsen zu sehen waren, die sich fortsetzten bis in ferne, mit Spielzeugkühen gesprenkelte Täler, verschwand er ganz und gar. Bestürzt zog sie ein Foto von ihm heraus, jenes Bild, das sie am Bahnhof Charing Cross geknipst hatte, wo er die Hand hob, um sein Gesicht zu verdecken, das Handgelenk vom Krokodillederband seiner Uhr umschlossen.
    »Wir finden ihn schon«, sagte Harold. »Mach dir keine Sorgen.« Er klang freundlich, richtig verständnisvoll.
    An diesem Abend blieben sie in einer Gegend namens Bad Lands. Als die Sonne zu sinken begann, erloschen die glühenden Berge und Felsen und verblassten zu einem matten Rosa und Gold. Die Fliegen
waren besonders wild, und Harold war die ganze Nacht damit beschäftigt, das Autoinnere mit Insektenschutzmittel einzunebeln. Schließlich kletterte Rose hinaus und versuchte draußen zu schlafen, unter einem Himmel, der vor lauter Sternen ganz milchig war.
    Sie überlegte, was sie Polly und Bernard bei ihrer Rückkehr erzählen konnte. Was sie über Harold dachte, musste sie für sich behalten, denn sie waren mit ihm befreundet. Am Tag nach dem Vorfall mit dem Gangster hatte er tatsächlich ein langes Gespräch mit ihr geführt, in dem es um sein Verhalten ihr gegenüber und um seine mangelnde Geduld ging. Das sei zurückzuführen auf seine törichten Erwartungen, wie es sein würde, wenn sie zusammen solche Naturwunder erlebten – und auf seine Reaktion darauf, wie es zwischen ihnen in Wirklichkeit gelaufen sei. Es tue ihm leid, sagte er, wenn er schwierig gewesen sei, aber sie müsse verstehen, dass er es nicht mehr gewöhnt sei, mit einer Frau zusammen zu sein, seit er Dollie verloren habe. Schlau, dachte Rose, wie er die Schuld von sich wegschob.
    Sie nickte und sagte, sie verstehe durchaus. Ehrlich gesagt hatte sie ihn gar nicht so schwierig gefunden, oder vielmehr: Sie war an derartige Reaktionen gewöhnt, die störten sie nicht. Es war ihr egal, wie er sie behandelte, solange er sie nur zu Dr. Wheeler brachte. Er verhielt sich auch nicht anders als ihre Eltern. Er wusste nicht, wer er war, und fürchtete
sich vor dem, der er vielleicht war. Er sprach viel von Offenheit, hatte aber kein Wort darüber verloren, dass er sich auf der Bank in die Hose gemacht hatte.
    In einer Stadt in der Nähe des Yellowstone Park legte Harold eine Pause ein; er wollte unbedingt wegen seiner Geldanlagen telefonieren. Über dem Drugstore in der staubigen Hauptstraße hing ein ramponierter ausgestanzter Santa Claus, der in einem Schlitten ohne Rentiere saß. Die Amerikaner waren versessen auf Weihnachten, dachte Rose. Die Männer auf dem Gehsteig waren wie Cowboys angezogen, und die meisten Frauen stöckelten in weißen, hochhackigen Schuhen vorbei. Hinter einem Laden mit der Aufschrift »Happy Hunting« sah Rose eine riesige blaue Kugel auf Stelzen in den Himmel ragen. Harold erklärte, das sei ein Wasserturm.
    Er schickte sie zur Post, um Briefmarken zu kaufen, während er seine Anrufe erledigte. Im Postamt hing ein Steckbrief von James Earl Ray, dem Mörder von Martin Luther King jr. Dort an der großen Wand wirkte er viel erschreckender als

Weitere Kostenlose Bücher