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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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Zeitungen, die er in der Kindheit
gelesen hatte, während er darauf wartete, dass er sich entleerte.
    Sie versuchte, an den Jungen ohne Gesicht zu denken und an seine vom Schlag getroffene Mutter, aber vor ihrem geistigen Auge sah sie nur Tante Phyllis auf dem Töpfchen hocken, das Nachthemd über den Hintern hochgezogen, das Licht der Straßenlaterne auf den glitzernden Lockenwicklern.

9
    Am nächsten Morgen klopfte Harold um sechs Uhr an Roses Tür und rief, sie solle zu ihm ins Restaurant kommen. Er hatte im Campingbus eine unruhige Nacht verbracht, war ständig raus- und reingeklettert, überzeugt, dass er Kratzgeräusche und verstohlene Schritte hörte. Dann war er aus der schwarzen, engen Blechhütte hinausgegangen und hatte unterm Sternenzelt Wache geschoben.
    Als Rose erschien, trug sie wie immer Hose und Regenmantel, obwohl es nicht mehr regnete und die Sonne in einen wolkenlosen Himmel stieg. Sie kaute gerade an ihrer Toastscheibe, als sie ihm plötzlich ein paar englische Shilling hinschob und dafür einen Dollar wollte. Er gab ihr, was sie brauchte, lehnte aber die auf dem Tisch verstreuten Münzen ab.
    »Was willst du dir kaufen?«, fragte er, und sie murmelte etwas von Frauenangelegenheiten, aber das war gelogen, denn sie ging geradewegs zum Tresen mit den Tabakwaren. Nachdem sie ihren Kauf getätigt hatte, rief sie ihm zu, sie gehe kurz hinaus, frische Luft schöpfen. Vermutlich brauchte sie eine
Zigarette, und er fragte sich, warum sie lieber allein rauchte.
    Als sie Pennsylvania hinter sich ließen und nach Ohio hineinfuhren, zwitscherte sie, das sei auch nicht anders als das Überschreiten der Grenze zwischen Lancashire und Yorkshire. Als sie hörte, dass sie schon die halbe Strecke nach Chicago zurückgelegt hatten, setzte sie sich auf und begann sogar die Karte zu studieren, warf sie aber gleich wieder beiseite und behauptete, sie kenne Chicago aus Gangsterfilmen. »Dort hat Al Capone seine ganzen Morde begangen.«
    Als sie sich Cleveland näherten, packte ihn das Verlangen, seine alte Universität zu besuchen, und er machte einen Abstecher nach Akron. Vielleicht war das keine gute Idee, aber irgendetwas zwang ihn dazu. Eine seltsame Einsamkeit beschlich ihn, ein geistiges Abgekapseltsein. Wahrscheinlich kam das vom Schlafmangel und dem inneren Aufruhr.
    Als sie den Campus erreichten, befahl er Rose, zu bleiben, wo sie war. Sie zog ein Gesicht, aber er beachtete es nicht. Ihre Gegenwart brachte ihn durcheinander. Sie war so streitlustig und sprach immer ohne nachzudenken. Mehr als zwei Stunden hatte sie nur vom Heiligen Geist und dem Tag des Zorns geredet. Das Begräbnis hatte ihre schlimmsten Eigenschaften hervorgekehrt. Sie war der Meinung, dass sogar der gefallene Soldat den Flammen der Hölle überantwortet wurde. Allmählich glaubte er, dass irgendeine Macht, vielleicht sogar Gott, sie beide
zusammengespannt hatte, um seinen Entschluss ins Wanken zu bringen.
    Mit hängenden Schultern trottete er zu den Verwaltungsgebäuden. Es war niemand zu sehen bis auf einen alten Mann mit einer Warze auf der Nase, der vor der geschlossenen Tür auf einem Stuhl saß. Er fragte Harold, was er wolle.
    »Jahrgang 1945«, meldete dieser. »Ich kann mich an Sie erinnern, aber Sie erinnern sich bestimmt nicht an mich … zu viele Gesichter.« Er sprach nicht aus, dass er vor allem die Warze denkwürdig fand.
    »Nö, ich erinner mich nicht«, erwiderte der alte Mann, »aber das ist kein Wunder. Meistens weiß ich nicht mal mehr, wie ich selber heiße.«
    Die Turnhalle lag hinter dem Chemielabor. Er verspürte das Bedürfnis, hinzugehen und durch die Fenster zu starren. Er war nicht allzu glücklich gewesen in diesen längst vergangenen Jahren, kein Wunder, aber zumindest war er teilweise der erstickenden Nähe seiner Mutter entkommen. Erinnerungen wirbelten ihm durch den Kopf wie ein Vogelschwarm. Jene erste Begegnung im Umkleideraum mit einem jungen Shaefer, dem das Wasser in den Augen stand wegen der Nachricht, dass Mahatma Gandhi erschossen worden sei; der Faustkampf mit Meredith Manning, den er dabei ertappt hatte, wie er Mrs Arlingtons Katze mit Steinen bewarf; sein erster herrlicher Absturz in die Trunkenheit, als die Musik der Tanzkapelle seine Schüchternheit hinweggeschwemmt hatte und
Shaefer, einen schützenden Arm um seine Schulter gelegt, mit ihm ins Mondlicht hinausgegangen war. Shaefer war ein wahrer Freund, einer, der ihn nie betrogen hatte und nie betrügen würde. Schließlich das lebhafte Bild

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