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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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wahrscheinlich verrückt.«
    »Überhaupt nicht«, beruhigte ihn Harold.
    »Ich habe angehalten … es war am Nachmittag … in der Nähe einer Kirche. Es war kein besonderes Gebäude, trotzdem trieb mich irgendwas hinein. Ich bin nicht religiös … das heißt, ich glaube schon irgendwie an Gott, aber ich kann mich da nicht reinsteigern.«
    »Ich auch nicht«, sagte Harold. Er merkte, dass Rose aufgehört hatte zu tanzen und sie anstarrte.
    »Es war grad so eine Art Gottesdienst«, fuhr Fury fort, »und der Organist spielte Bachs Messe in h-Moll. Du weißt schon, welche ich meine …« Er begann eine schwermütige Melodie zu summen.
    »Nicht genau«, gab Harold zu.
    »Das wurde beim Begräbnis meines Vaters gespielt. Ich muss zugeben, ich war zu Tränen gerührt, aber ich habe meinen Alten Herrn auch sehr gerngehabt … du weißt ja, wie das ist.«
    »Nein«, sagte Harold. »Ich habe zu viele gehabt – Väter, meine ich.« Rose grinste.

    Fury beugte sich auf seinem Hocker vor und sagte: »Ich spürte einen Druck gegen meinen Rücken, als würde mich jemand berühren und auffordern aufzustehen, und als ich dann tatsächlich aufstand, empfand ich ein überwältigendes Gefühl von Leichtigkeit, wie wenn ich meinen Körper verlassen hätte.«
    Er stand auf und streckte die Arme zu beiden Seiten aus, als wollte er fliegen. Dann kauerte er sich plötzlich zusammen, das Kinn auf der Brust. »Sekunden später«, sagte er, »überkam mich eine unglaubliche Schwere, als würde ich in die Erde gedrückt.«
    Harold schwieg; er wusste nicht recht, welche Antwort hier angemessen war. Er sah Rose nicht an.
    »Dann glaubte ich zu wissen, was es war … ich stand vor dem Richterstuhl … wurde gewogen … und zu leicht befunden.«
    »Jesus«, murmelte Harold, aber er meinte nicht Gott.
    »Ich habe dieses Gefühl immer noch«, gestand Fury. »Jetzt schaue ich etwas ganz Normales an, diesen Stein zum Beispiel«, er wühlte mit der Fußspitze im Boden, »und erkenne, dass er genauso wichtig ist wie ich. Ich hab ja gesagt, es war verrückt.« Er massierte sich immer noch die Stirn, als wollte er seine Gedanken wegschieben. Aus der Lichtung hinter ihnen erhob sich stümperhafter Gesang, ein »Happy Birthday« zu Ehren der Kessen Katie.
    Harold blieb stumm. Es war ihm schlechterdings unmöglich zu verstehen, wie ein Mann, der sich für
Pferde interessierte, einen solchen Unsinn daherschwatzen konnte. Als er eine Mücke sirren hörte, lief er los, suchte sein Insektenspray und blieb eine Zeit lang im Campingbus, bis er sicher war, dass seine Haut ausreichend geschützt war.
    Als er zurückkehrte, saß Rose im Schneidersitz zu Furys Füßen. Er schwang große Reden über Politik.
    »… 1964 wurde McCarthy zum Senator für Minnesota gewählt, mit der größten Mehrheit, die jemals ein Demokrat bekommen hat. Als anmaßender, schnell gelangweilter Mensch sprach er davon, alles aufzugeben und wieder Hochschullehrer zu werden. Weißt du, dass er den Senat einmal als Leprosenhaus bezeichnet hat?«
    Rose fragte: »Kennst du diesen Song über einen Park im Regen?«
    Fury starrte sie an.
    »MacArthur’s Park is singing in the rain«, trällerte sie, »I don’t think that I can take it, for it took so long to bake it … oh no … la, la …«
    Fury sagte: »Er hat zwar eine zynische Ader, aber er hat als Einziger immer schonungslos gegen die lausige Einstellung protestiert, die unsere Auslandspolitik bestimmt, gegen die dreckige Sprache, mit der sie sich rechtfertigt…«
    »Es wird nicht erklärt, was er kochen wollte«, unterbrach ihn Rose, »vor allem im Freien.«
    »…und die blutigen Folgen, zu denen es geführt hat«, fuhr Fury unbeirrt fort. »Nicht zuletzt in
Vietnam. Er war ein großer Freund des Dichters Robert Lowell … Kennst du den?«
    »Wer kennt ihn nicht?«, sagte Rose.
    »Er hat selbst gedichtet. Kennst du das: Ich suche in Speichern und Schuppen des Lebens und berge Scherben und Splitter der Wahrheit, Reste toter Poeten, Relikte der Götter. «
    »Ja, ja«, rief sie begeistert. »Wer könnte je ein Wort von Lowell vergessen!«
    »Das hat nicht Lowell geschrieben« stellte Fury richtig, »sondern McCarthy.«
    Harold auf seinem Hocker stupste Rose mit dem Fuß an. Sie grinste breit, wie schon den ganzen Abend. Offensichtlich empfand sie Fury als eine Art Lachnummer, genauso unterhaltsam wie diesen fanatischen Scheißkerl mit dem roten Gesicht. Zu seiner Erleichterung stand sie auf und schlenderte unter die Bäume.

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