Die Frau im Kühlschrank
Er rollte auf den Gehsteig und hielt am Rande der Menschenmenge. Ich nutzte die Chance und ging dicht hinter den beiden Polizisten durch die Menge zur Kaimauer. Jemand hatte einen an einer Leine befestigten Rettungsring ins Wasser geworfen. Das war sinnlos, denn der Mann im Wasser konnte nicht mehr nach dem kreisrunden, weiß-roten Ring greifen. Er trieb auf dem Rücken mit dem Gesicht nach oben. Das Gesicht war grau und fahl, und das schmutzige Wasser spülte immer wieder darüber hinweg. Trotzdem hatte ich keine Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen. Der Mund rang nach Luft, die er nie wieder atmen würde, und er lächelte nicht. Es war ja auch nicht das Lächeln gewesen, was dem Mann namens Hermannsen den Beinamen Lächel beschert hatte.
Ich blieb stehen und sah auf ihn hinunter, während die Angst in meinem Bauch wuchs. Dann zog ich mich langsam von der Kaimauer zurück, rückwärts durch die Menschenmenge. Ich sah niemanden an, und als ich am Rand der Menge angelangt war, drehte ich mich um und begann, halb in Trance, wieder in die Stadt zurückzugehen.
Erst langsam, dann schneller.
28
Um die Spitze von Vågen herum folgte ich dem Kai auf die Westseite, überquerte die Straße und lief nach Norden, durch enge Straßen, die kreuz und quer verliefen und an das Bergen erinnerten, in dem ich einmal Kind gewesen war. Zum Schluß blieb ich gebeugt gegen eine Wand gelehnt stehen und atmete schwer. Es schmerzte in der Stirn und es brauste in den Ohren. Kleine schwarze Flecken rieselten vor meinen Augen herab wie Fallschirmspringer in der Ferne, und ich hatte einen Geschmack von Blut im Mund.
Unwillkürlich sah ich zurück, aber es folgte mir niemand. Noch nicht.
Eine ältere Dame blieb stehen und fragte, ob mir schlecht sei. Ich versuchte, ein Lächeln hervorzubringen und sagte nein, nur ein bißchen unwohl. Um nicht mehr Aufsehen zu erregen, ging ich weiter, noch immer nach Norden, um so weit wie möglich vom Zentrum wegzukommen.
Beim Musikzentrum Bjergsted standen nackte Bäume und zeichneten dunkle Novembersilhouetten gegen den weißen Himmel. Ich ging um das flache, dunkelrote Gebäude herum und lehnte mich an die Mauer der Terrasse, die zum Meer hin lag. Durch die großen Fenster starrten bleiche Gesichter zu mir heraus, wie aus einem Aquarium. Ich spürte die ganze Zeit ihre Augen im Rücken, und das verstärkte das Gefühl, daß mir jemand auf den Fersen war.
Ich blieb stehen und starrte blind auf die andere Seite von Vågen. Drei Tote. Es wurden langsam viele. Die Frau im Kühlschrank. Laura Lüstgen. Und jetzt Lächel-Hermannsen. Elsa war verschwunden, und heute morgen hatte jemand versucht, mich zu überfahren. Und wo war Arne Samuelsen? Und wer war er?
Wenn Frau Samuelsen keinen Sohn hatte, wer war es dann, der in der Wohnung gewohnt hatte? Die Tochter in Bergen könnte mir sicher etwas erzählen – wenn sie noch in Bergen war .Ich konnte noch einmal Frau Samuelsen anrufen, aber das Ganze war zu unzusammenhängend, zu sinnlos. Was sollten diese Lügen – von der Tochter – und von dem Sohn?
Ich versuchte, Arne Samuelsen vor mir zu sehen, aber das Bild verschwamm. Trieb auch er irgendwo im Hafenbecken, so wie Lächel-Hermannsen? Lag er am Fuß einer Treppe irgendwo, mit gebrochenem Genick und ganz so, als hätte es auch ein Unfall sein können? Oder schlich er im Schatten der Häuser durch die Straßen und suchte nach jemandem?
Irgend etwas mußte an dem Mittwoch in seiner Wohnung passiert sein. Von den sechs, die dagewesen waren, waren mindestens drei tot. Es blieben noch Arne Samuelsen selbst und die zwei unbekannten Männer. Der Mann mit dem Cowboyhut – und noch ein anderer.
Aber was war passiert? Was konnte passiert sein, das diese Epidemie von gewaltsamen Toden verursacht hatte?
Ich stand da und starrte in die Luft, die Ellenbogen gegen die Mauer gestützt, bis mir kalt wurde. Ein blaugraues Halbdunkel erfüllte nach und nach die Stadt. Im Osten flocht die Nacht ihre ersten schwarzen Webfäden in die Wolkendecke. Es wurde kälter. Mich fröstelte, ich schlug den Mantelkragen im Nacken hoch und trottete wieder um das Gebäude herum. Durch das Tor hinaus folgte mir eine Handvoll Musikstudenten mit blassen Abendgesichtern. Einige von ihnen trugen Instrumentenkoffer, andere hatten nur Taschen über den Schultern. Ich hatte mit Elsa verabredet, sie um sechs Uhr in der Hotelbar zu treffen. Wenn jemand hinter mir her war, behielt er wahrscheinlich das Hotel im Auge. Und wenn Elsa etwas
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