Die Frau im Kühlschrank
Wiederholung: »Und wer hat schuld?«
Dann wurden seine Schultern schlaff, und er wandte sich endgültig seinen Gläsern zu. Er sah mich nicht mehr, und mir fiel nichts ein, was man hätte sagen können. Es gab die richtigen Worte nicht. Ich sah wieder auf die Uhr. Viertel vor sechs.
Ich kroch zu Kreuze und bestellte ein neues Glas Orangensaft. Jetzt hatte ich beide Augen auf die Tür gerichtet. Ich versuchte, sie vor mir zu sehen, überlegte, ob sie die gleichen Kleider tragen würde wie gestern, oder …
Zehn vor sechs. Eine Frau im Pelzmantel tauchte in der Tür auf. Ich atmete tief ein. Aber es war eine Blondine, und auch wenn sie vielleicht eine Perücke trug, die Gesichtszüge waren nicht die Elsas. Sie ging an mir vorbei mit dem Gang einer trägen Antilope und einem Duft afrikanischer Savannen um sich herum. Sie schlug ihr Lager an einem Tisch in der Nähe auf und konnte sich nicht über zu wenig Gesellschaft beklagen.
Fünf vor sechs. Zwei junge Männer kamen herein, spähten im Lokal nach Bekannten, standen einen Moment und diskutierten und gingen wieder.
Sechs Uhr. Mein Glas war wieder leer. Meinem Nebenmann wurde nachgeschenkt.
Der Geräuschpegel war gestiegen. Die Stimmen hatten eine höhere Phonzahl erreicht, die Gläser wurden schneller geleert, die Lautsprechermusik mußte eine Stufe lauter gestellt werden, damit man sie hörte.
Ich saß da und fingerte an dem leeren Glas herum.
Sir, sagte ich laut in Gedanken. Das klang nach einem Rasierwasser für Männer von Welt, aber es war wohl kaum eine Reklame, die sie auf ihrem Badezimmerspiegel hinterlassen hatte.
Es konnte auch nach einem feineren Herrenmagazin klingen, einem von denen, die für die tollsten Autos warben, die längsten Zigarren und den teuersten Schnaps, und deren Pinup-Seiten die umwerfendsten rosa Traummädchen zeigten.
Oder …
Oder was?
Der Anfang eines Wortes. Sir. Der Anfang eines Namens. Eines Ortes in Jæren. Sirevåg.
Ich ließ es auf der Zunge zergehen. Sirevåg, Sirevåg. Wo hatte ich schon mal von Sirevåg gehört? Wer hatte von Sirevåg gesprochen?
Ich dachte so angestrengt nach, daß ich einen Anflug von Kopfschmerz verspürte, und dann fiel es mir plötzlich ein, wie ein Blitz fuhr es durch meinen Körper.
Sirevåg! Benjamin Sieverts hatte erzählt, daß Ole Johnny eine Hütte in Sirevåg hatte.
Ole Johnny. Und es waren Ole Johnnys Pinguine gewesen, die versucht hatten, mich vor ihrem Wohnblock zu überfahren. Sie waren wahrscheinlich dorthin zurückgefahren.
Ich sah wieder auf die Uhr. Es war Viertel nach sechs. Ich brauchte nicht länger zu warten. Ich wußte, daß sie nicht kommen würde.
Ich sprang vom Barhocker und ging zur Rezeption. Dort war ein Telefon, hinter einer Glastür. Es war frei. Ich ging hinein und suchte Kleingeld zusammen.
Dann hielt ich inne und sah den Apparat an.
Ich hätte die Polizei anrufen können. Ich hätte die Polizei anrufen sollen .
Aber dann überfielen mich Zweifel. Es war ja nur eine Vermutung. Anhand eines Wortfetzens. Sir, das konnte so viel anderes bedeuten als Sirevåg. Würden sie es ernst nehmen? Oder hatten sie wichtigere Dinge zu tun?
Ich warf eine Münze in den Apparat und rief die Autovermietung an, die mir einmal in einem Anfall von Unzurechnungsfähigkeit eine Kreditkarte zugeteilt hatte. Sie hatten eine Filiale in Sola, die offen hatte, solange Flugzeuge ankamen.
Ich konnte sofort einen Wagen bekommen, aber wenn ich ihn zum Hotel gebracht haben wollte, dann würde es ungefähr eine Stunde dauern.
Ich antwortete, ich würde ein Taxi nehmen, hinterließ eine Nachricht an der Rezeption, daß ich nicht wüßte, wann ich wiederkäme, und verließ das Hotel.
Ich war auf dem Weg nach Sirevåg.
29
An einem dunklen Novemberabend durch Jæren zu fahren, gibt einem das Gefühl, man sei am Ende der Welt. Die beleuchteten Orte lagen wie Oasen in der grauschwarzen, flachen Landschaft, wo geduckte Bauernhäuser sich hinter Feldsteinmauern und verkrüppelten, wetterharten Bäumen zusammendrängten, die dem Meer ihren Rücken zuwandten und sich auf die Häuser zukrümmten, als würden sie frieren. Auf den Feldern an der Straße lag schon Rauhreif vom ersten Frost des Winters. Im Süden lag das Meer wie eine schwarze Leere, und eine durchdringende, eiskalte Brise erhob sich und fiel über das Land. Ich hatte das Gefühl, daß ich, wenn ich jetzt von der Straße abkäme, in einem endlosen Dunkel verschwinden würde, einem Nichts ohne Boden, einer Nacht ohne Morgen. Ein
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