Die Frau im Kühlschrank
zugestoßen war, dann würde am Treffpunkt niemand sein.
Ich konnte den Hoteleingang beobachten, um zu sehen, ob sie kam. Aber wahrscheinlich würden sie mich auch dann entdecken. Und die Straßen um das Hotel herum waren dunkel und unübersichtlich, während drinnen Licht war, wenn auch gedämpftes, und in jedem Fall waren dort Menschen. Andere Menschen, unbescholtene Menschen.
Ich wählte einen komplizierten Umweg und kam durch die nächstgelegene Seitenstraße zum Hotel. Ich ging schnell zum Eingang hinauf und hinein. Niemand hielt mich auf. Der Portier sah mich unbeteiligt an und holte den Schlüssel zu meinem Zimmer. Ich winkte ab und ging in die Bar. Ich hängte meinen Mantel auf und sah mich um. Es war früh am Abend, so daß noch kaum Tische besetzt waren. Benjamin Sieverts saß allein an der Bar, hoch oben auf einem schmalen Barhocker. Wie er da saß, die beiden Hände um das Whiskyglas gefaltet und mit bekümmertem Gesichtsausdruck, erinnerte er an jemanden, der versucht, den Weltrekord im Fahnenstangenhalten zu brechen und der schon zwanzig Tage hinter sich hat.
Ich kletterte auf den Hocker neben ihm, nickte und sagte: »Lange nicht gesehn, alter Freund. Hier ist ganz schön was los!«
Er wandte mir ruckartig das Gesicht zu. Seine Haut war grau, und er hatte Schweißperlen über der Oberlippe. Sein Blick flackerte an mir vorbei, in den Raum hinter mir und wieder zurück. »Wer – sind Sie?« sagte er schwach.
Ich sah ihn verwirrt an.
»Sie müssen sich irren«, sagte er schnell. »Sie verwechseln mich mit jemand anderem.«
Ich lachte verblüfft. »Hör mal, Sieverts, ich …«
Er unterbrach mich in schärferem Ton und so abweisend, daß es für ein Publikum berechnet sein mußte. »Sie irren sich, sage ich! Hören Sie denn nicht, Sie irren sich! Ich habe Sie noch nie gesehen, noch nie von Ihnen gehört, bin Ihnen noch nie begegnet!«
Die Augen glitzerten erregt, die Pupillen waren auffallend klein. Der Schweiß sammelte sich in kleinen Perlen auf seiner Stirn. Er griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Mit flinken Bewegungen und ohne ein Wort des Abschieds war er vom Hocker herunter und auf dem Weg zur Tür. Der Weltrekord schien ihm egal zu sein, und er sehnte sich nach einer ruhigen Nacht Schlaf.
Ich starrte ihm hinterher. »Benjamin Sieverts«, sagte ich zu mir selbst. »Der Mann, der nie ein Gesicht vergißt.«
Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihm zu folgen. Es hätte keinem von uns geholfen. Nachdem ich meine Nerven zur Ruhe gebracht hatte, bestellte ich ein Glas Orangensaft. Ich blieb seitwärts auf dem Barhocker sitzen, den einen Ellenbogen auf die Theke gestützt, und behielt die Eingangstür im Augenwinkel.
Ein dicklicher Kerl Ende Dreißig kletterte auf den Hocker neben mir. Er war über das Stadium des Schwipses weit hinaus und bestellte einen doppelten Whiskey und einen halben Liter Bier in einem Tonfall, als predige er auf dem Begräbnis seines besten Freundes.
Er saß vornübergebeugt da, das Bierglas in der einen und das Schnapsglas in der anderen Hand, und trank abwechselnd aus beiden, als würde er den Geschmack vergleichen. Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach fünf.
»Was trinkst du denn da, Kumpel?« Der Blick der wässrigen Augen meines Nebenmannes schwappte vom Glas zu meinem Gesicht, ohne irgendwo einen festen Halt zu finden.
Sein Haar war dünn, und ein paar lange, goldblonde Strähnen klebten seitlich an dem schwitzenden Gesicht. Die Oberlippe war viel voller als die Unterlippe, was ihn wie eine freundliche Kröte aussehen ließ. Er hatte etwas Verwahrlostes an sich, und das machte ihn mir fast vertraut. Er sah ungefähr so aus, wie ich mich gewöhnlich fühlte.
»Orangensaft«, antwortete ich.
Er sah mich ungläubig an. »Aber …«, sagte er. Er ruderte mit den Armen in der Luft. Sie waren kurz und kräftig und endeten in einem Paar breiter Arbeitspranken. »Ich dachte, ich könnte einen ausgeben …«, sagte er, wie um mir zu verstehen zu geben, daß so ein dünnes, labbriges Zeug wie Orangensaft seine Großzügigkeit nicht wert war.
»Herzlichen Dank, aber – das reicht mir.«
Er konzentrierte sich wieder auf seine zwei Gläser. Es wurde ihm nachgeschenkt. Der Barkeeper warf einen säuerlichen Blick auf mein halbvolles Glas und übersah mich völlig.
Mein Nebenmann beugte sich wieder zu mir herüber. »Nie wieder, Kumpel!«
Ich fragte höflich: »Nie wieder was?«
Er zeigte mit einem rundlichen Finger auf eine der Wände, in Richtung
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