Die Frau im Tal
dauern kann. Als Anja starb, wollte ich beim Krematorium anrufen undfragen, ob sie mir sagen können, wann genau es passiert. Dann hätte ich die Straßenbahn zum Friedhof genommen und den hohen Schornstein beobachtet, um zu sehen, wie der Rauch aufsteigt, und hätte gewußt, daß das Anja ist. Diesen Wunsch habe ich nun bei Marianne. Den Zeitpunkt erfahren. Wissen, welcher Rauch der ihre ist.
Als ich mich umdrehe, stehen Mutter und Tochter Seite an Seite direkt hinter mir. In einer anderen Situation hätten wir einander vielleicht die Hand gegeben. Meine kranke Vorstellung läßt mich nicht los.
»Seltsam, wenn man sich vorstellt, daß sie nicht sofort verbrannt werden«, sage ich.
»Was meinst du mit sie?« fragt Ida Marie Liljerot.
»Nicht fragen, Mama«, sagt die Tochter bittend. Sie ist kräftiger als Anja, fülliger als Marianne. Sieht aus, als treibe sie Sport. Weder Marianne noch Anja trieben Sport.
»Ein trauriger Tag«, stellt sie fest und starrt auf meinen Revers. Sie hat Mariannes Augen und Anjas Stimme. Sie ist einunddreißig Jahre alt, fünf Jahre jünger als ihre Schwester. Zwischen uns sind zwölf Jahre.
»Du bist den weiten Weg aus Nordnorwegen angereist?« sage ich und beuge den Kopf, um zu sehen, worauf sie starrt. Da sind gelbe Flecken in langen Streifen. Ich habe mir das Eidotter über die ganze linke Seite des Jakketts gekleckert. Ich werde puterrot. Ich ziehe ein Taschentuch heraus und fange zu reiben an.
»Nicht so«, sagt Sigrun Liljerot.
Sie holt eine Feuchtserviette aus der Handtasche, reißt das Papier ab. Ich will ihr das feuchte Tuch wegnehmen.
»Nein«, sagt sie. »Laß mich das machen.«
Sie reibt die Flecken weg.
»Können wir jetzt die Türen öffnen?« fragt einer der Männer des Bestattungsinstituts.
»Ja«, sagt Ida Marie Liljerot.
»Du mußt bei uns vorne in der ersten Reihe sitzen«, sagt Sigrun Liljerot, nachdem sie erfolgreich die gelben Flecken entfernt hat. »Du warst schließlich ihr Geliebter.«
»Ihr Ehemann«, sage ich.
Sie blickt mich erstaunt an, dann ihre Mutter.
»Das hast du mir nicht erzählt, Mutter«, sagt sie verärgert.
»Es war ganz neu«, sagt die bekannte Psychiaterin verlegen.
»Und es geschah heimlich.«
»Wann habt ihr geheiratet?« fragt Sigrun Liljerot.
»Im April«, antworte ich. »In Wien. Da war Marianne bereits schwanger.«
Wir gehen vor zur ersten Reihe. Ida Marie Liljerot schwankt, droht zu fallen. Die Tochter fängt sie auf. Als die alte Dame ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat, streift sie mit der knochigen Hand über meine Schulter, wie eine freundliche Geste.
»Ich mag nicht weiter darüber reden«, sagt sie schwach.
»Du siehst mitgenommen und erschöpft aus«, flüstert Sigrun mir unerwartet vertraulich zu. »Und du hast sehr große Pupillen.«
»Halb so schlimm«, sage ich.
»Aber ich bin Ärztin«, sagt sie.
Ich begrüße zwei Onkel. Auch sie sind Doktoren, der eine ist Professor für Sozialmedizin, der andere Chirurg im Rikshospital. Eine ganze Familie von Ärzten. Bonvivantsmit sozialdemokratischer Gesinnung. Kettenraucher und Freunde der seichten Unterhaltung, mit verschmutzten Brillen, Schuppen auf den Schultern und abstehenden Haaren. In beiden erkenne ich etwas von Anja und Marianne.
Dann begrüße ich Sigrun Liljerots Mann. Er hat dunkle Locken und ist klein und stämmig. Blitzblaue Augen. Ein freundlicher, energischer Blick.
»Du bist also Aksel Vinding«, sagt er im Finnmarksdialekt. Er streckt mir die Hand hin. »Eirik Kjosen.«
»Freut mich«, sage ich.
Die Leute strömen in den Saal des Krematoriums. Ich drehe mich kurz um und stelle fest, daß Iselin Hoffmann, Mariannes einstige intime Freundin, gekommen ist. Rebecca ist auch da, ohne Christian. Torfinn und Selma Lynge zusammen mit W. Gude. Cathrine? Nein, sie nicht. Aber ganz hinten in der Schlange: Gabriel Holst und eine gutaussehende Frau mit langem, braunem Haar. Das muß Jeanette sein.
Dann beginnt die Abschiedszeremonie, gestaltet vom Verein für Humanethik. Ich sitze ganz am Rand der Bank neben Eirik Kjosen. Sigrun ist an seiner anderen Seite. Sie hält seine Hand fest, reibt mit dem Daumen seinen Zeigefinger. Eine Ärztin des Vereins sozialistischer Ärzte hält die Hauptrede. Sie ist um einiges älter als Marianne, hat kurzes Haar und eine enorme Brille. Ihre Stimme klingt scharf, wenn auch deutlich bewegt. Sie spricht über die empathische Marianne, über den Vogel ohne Nest, der so stark wirkte, aber so zerbrechlich war und so
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