Die Frau im Tal
herumkommandieren«, versichereich und blinzele in das Abendlicht, bevor ich die Treppe hinuntersteige zu dem Kellerlokal.
»Club 7«, erklärt Gabriel, der hier eindeutig wie zu Hause ist.
Es wimmelt von jungen Leuten. Studenten, Schüler, dazu ältere Schauspieler und Maler mit grauem Haar und Jeans, die mit ihrem Bier in der Hand Ausschau halten nach der Beute des Abends. Gabriel grüßt nach allen Seiten. Aber er weiß, wohin er will. Er hat einen Plan. Er öffnet die Tür zu einem dunklen Raum mit niedriger Decke. Ein Jazzpianist hängt halb schlafend am Flügel, während der Bassist und der Schlagzeuger versuchen, die Melodie wiederzufinden, die ihnen abhanden gekommen ist. Als wir die niedrige Bühne überqueren, schlägt Gabriel dem Jazzpianisten kräftig auf die Schulter. Der wird jäh wach und setzt sofort mit wilden Klangkaskaden ein. Das ist so absurd, daß ich lachen muß. Ein müdes, befreiendes Lachen.
»Was ist los mit ihm?«
»Das ist der Alkohol, ebensosehr ein Segen wie eine Geißel. Man weiß nie genau, was er gerade ist. Ich habe dir von Charlie Parker erzählt. Dexter Gordon aber, den konntest du sturzbetrunken auf die Bühne schleppen, ihm einen freundlichen Klaps auf die Wange versetzen, und er spielte wie der Teufel.«
»Das klingt etwas wie McCoy Tyner«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe.
»Hey, du weißt, wer McCoy Tyner ist?« fragt Gabriel Holst überrascht.
»Von Marianne, hat sie mir in Zusammenhang mit all diesen Joni-Mitchell-Songs erzählt.« Ich schwanke von dem vielen Wein. Mariannes Namen auch nur auszusprechen tut weh.
Jeanette liest meine Gedanken. »Hat sie Marianne sehr ähnlich gesehen, die Schwester?«
»Ja«, sage ich. »Und Anja. Der Tochter. Darauf war ich nicht gefaßt.«
»Was müssen das bloß für Frauen gewesen sein.«
»Vergrabt euch jetzt nicht in dieses Thema«, sagt Gabriel mahnend und geht nach rechts, hinüber zur Theke. »Hier ist jemand, den du sicher begrüßen willst. Sie kann dich mit Wein, Bier und Gulasch versorgen. Was möchtest du?«
Ich halte mich an der Holzplatte fest.
Es ist Cathrine.
Sie steht da in der Club-7-Uniform, das kurzgeschnittene blonde Haar, die unbescheidenen Brüste. Als stünde sie dort schon immer. Meine Schwester. Sie stellt mir ein kaltes Bier hin und lächelt unsicher.
Der Rückzug
Ich habe später oft an diesen Abend und diese Nacht gedacht, aber die Details vermischen sich, und ich weiß nicht mehr, was wirklich geschah und was ich mir nur wünschte, daß es geschah, aber ich glaube, es trifft zu, daß wir uns umarmten, daß ich weinte und daß sie mich an den Haaren zog. Soweit ich mich erinnere, wußte sie, was mit Marianne passiert war, aber noch nicht, was mit mir passiert ist. Soweit ich mich erinnere, standen wir nur da und zupften aneinander herum, wie damals, als wir klein waren, fühlten, wie sehr wir einander vermißt hatten in der langen Zeit, in der sie auf Reisen war und ich nicht wußte, wo sie sich befand, was sie machte oder dachte. Gabriel und Jeanette haben sich zurückgezogen, und Cathrine istfast wie früher, nur die Haut etwas grauer und mit einer Narbe an der Wange.
»Was ist da passiert?« frage ich und streiche vorsichtig darüber.
»Ein verrückter Typ in Srinagar«, sagt sie mit einem Lächeln. »Stört es dich?«
»Nein, gar nicht«, versichere ich.
Sie nimmt sich einige Minuten frei. Wir setzen uns an einen dunklen Ecktisch. Im Club 7 ist es zum Glück überall dunkel. Sie nimmt meine Hände, will mich festhalten, will wieder große Schwester sein.
»Gabriel hat mir alles erzählt. Du bist ziemlich tief unten im Keller, was? Du hast sie heute begraben?«
Ich nicke. »Du hättest kommen sollen. Dann wäre es leichter gewesen.«
Sie schüttelt heftig den Kopf. »Ich möchte nicht noch einmal von dieser Familie vereinnahmt werden, so wie du. Das mit Anja hat mir gereicht. Und diese Trauer konnte ich sowieso nicht mit dir teilen.«
»Aber warum hast du dich nicht gemeldet? Du warst doch auf meinem Debütkonzert?«
»Ich hoffte, du würdest mich nicht sehen. Ich wollte deinen Auftritt nicht noch einmal stören. Der eine Skandal in der Aula hat mir gereicht.«
»Als du mitten in ›Clair de Lune‹ Bravo gerufen hast«, lächle ich.
»Das war nach Mutters Tod, und es ging mir gar nicht gut. Ich habe das gemacht, weil es ein Wettbewerb war, weil ich in Anja verliebt war, weil ich wollte, daß Anja gewinnt, weil ich zugedröhnt war, weil ich dir die Tour vermasseln
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