Die Frau im Tal
Stricknadel behandelte, ihrem erstenSelbstmordversuch. Sie lächelt. Der schwarze Blick bestimmt fast das ganze Gesicht, als hätte sie sich Sekunden nach der Belichtung selbst ausgelöscht. Das Bild wollte die Familie also haben? Das düsterste? So war sie also in ihren Augen?
»Wer bist du?« fragt der Mann auf der linken Seite mit dem blanken, glänzenden Gesicht und den Schweißperlen auf der Stirn.
»Ich bin der Ehemann«, sage ich.
Sie glauben mir nicht.
»Außerdem soll ich spielen«, füge ich hinzu.
Sie wechseln einen Blick. Die Situation ist ihnen deutlich unangenehm.
»Beruhigt euch«, sage ich. »Ich kann Klavier spielen. Ich hatte letzten Mittwoch in der Aula mein Debüt.«
Ich kümmere mich nicht mehr um ihr Zögern und gehe hinein. Sie wagen es nicht, mich aufzuhalten.
Ich bin es bereits gewöhnt, daß mich die Leute anstarren. Als ich den Saal des Krematoriums betrete, beachte ich sie nicht, all diese Menschen der Familie Liljerot, von denen Marianne nie gesprochen hat. Ich sehe nur das gedämpfte Licht. Ich sehe nur den geöffneten Sarg. Und ich sehe die Schwester, die davor kniet.
Die kleine Schwester
Ich stelle mich links hinter die Säulen und betrachte sie von der Seite. Sie gleicht der Verstorbenen wie ein Zwilling, nur jünger. Deshalb ähnelt sie auch der Nichte. Schockiert von diesem Wiedererkennen, als würde Anja trauernd am Sarg ihrer Mutter knien, trete ich näher. Mit jedem Schritt wird Sigrun Liljerot älter. Die Ähnlichkeit mit Anja schwindet. Aber irgendwo in dieser Gestalt bleibt Anja. Was ich dieWelt der Skoogs nannte, ist jetzt die Welt der Liljerots. Ich nähere mich Sigrun Liljerot und weiß, daß ich sie in ihrer Trauer stören werde. Trotzdem tue ich es. Ich bin schließlich der Ehemann. Neunzehn Jahre alt, aber trotzdem der Ehemann. Ich habe das Recht dazu.
Noch schenkt sie mir keine Beachtung. Ich stelle mich hinter sie. Jetzt sehe ich Marianne. Sie waren im Skoog-Haus und haben das schwarze Kleid geholt, das sie trug, als wir in Wien heirateten. Es paßt besser zu einem Anlaß wie diesem. Man hat ihre Frisur mit Haarklammern gerichtet und ihr eine rote Rose in die gefalteten Hände gesteckt. Das ist nicht ihr Stil. Und die Augen. Als hätte man sie gewaltsam geschlossen. Den Mund haben die Bestatter auch nicht hingekriegt. Es sieht aus, als schmollte sie.
Aber etwas haben sie erfolgreich kaschiert. Man sieht nicht, daß sie sich das Genick gebrochen hat.
Reglos stehe ich hinter Sigrun Liljerot und frage mich, ob ihr die kleine Wölbung an Mariannes Bauch auffällt. Schließlich merkt sie, daß ich hinter ihr stehe, und wendet sich halb um. Aber sie ist nicht fertig. Sie erhebt sich, schüttelt sich kurz, als wolle sie einen unangenehmen Gedanken loswerden. Sie tritt ans Kopfende und beugt sich über das Gesicht der Schwester, faßt ihr vorsichtig ins Haar und sagt, beinahe zornig:
»Dummchen, du.«
Endlich dreht sie sich zu mir um. Ihre ganze Erscheinung hat etwas Helles und Harmonisches.
»Du bist Aksel«, stellt sie mit einem kleinen Lächeln fest. »Du kannst dich jetzt von ihr verabschieden.«
»Ich verabschiede mich von allen beiden«, sage ich.
Sie zuckt zurück, als hätte ich sie geschlagen.
Abschied von Marianne
Ich bin der letzte, dem man gestattet, sie zu sehen, bevor der Sarg geschlossen wird. Als ich näher trete, sehe ich ein Stückchen Zunge in dem einen Mundwinkel. Man hatte es nicht geschafft, sie ganz hineinzuschieben. Es sieht deshalb aus, als würde sie gähnen. Ich sehe, daß ihr Haar den Glanz verloren hat, daß es aussieht wie eine Perücke. Es riecht intensiv nach Puder. Sie müssen vergessen haben, ihr Parfüm aus dem Skoog-Haus zu holen. Ich spüre, daß Sigrun und Ida Marie Liljerot hinter mir stehen und verfolgen, was ich mache.
Ich beuge mich vor und küsse sie rasch auf die Wange.
Ihre Haut ist eiskalt.
Dann lege ich die Hand auf ihren Bauch.
»Vielleicht bleibt es erhalten«, flüstere ich ihr ins Ohr.
Die Bestatter stehen neben mir, als ich mich wieder aufrichte.
»Es wird langsam Zeit«, murmelt der eine verlegen.
»Ich bin fertig«, sage ich.
Behutsam legen sie den Deckel auf den Sarg und drehen die Schrauben fest.
»Wie lange dauert es eigentlich bis zur Verbrennung?« frage ich.
Der mit den Schweißperlen wirkt verunsichert.
»Das kommt darauf an, wie lange die Schlange ist«, sagt er.
»Wird es noch heute passieren?« frage ich.
»Eher nicht«, antwortet er.
Ich habe schon gehört, daß es einige Zeit
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