Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
Burschen, die gerade den Führerschein erworben haben, kommen von der Straße ab und prallen gegen einen Baum. Jemand ist eher halbherzig und ertrinkt sogar beim Angeln in einem kleinen See. Marianne war nicht halbherzig. Konsequent verwirklichte sie, was sie sich vorgenommen hatte. Was wissen sie schon, diese Menschen in der Straßenbahn? Wie dieses Mädchen mit den Locken, den glänzenden Lippen und den jungen, straffen Brüsten? Mehr aus Höflichkeit der Familie gegenüber als aus Respekt vor Marianne habe ich die schwarze Farbe der Trauer angelegt, in meinem Alter sieht man immer lächerlich aus im dunklen Anzug, und Marianne hat mir ausdrücklich verboten, bei meinem Debüt einen Frack anzuziehen. Jetzt fühle ich mich eher wie ein Mormone, wie ein frischbekehrter Laienprediger. Marianne würde das gar nicht gefallen. Sie würde es verabscheuen , und ich werde rot bei diesem Gedanken, wie schwach und angepaßt ich bin, während sie immer Grenzen überschritt. Wäre es nach ihr gegangen, hätte ich in Jeans und mit Stirnband erscheinen können, und ich denke an all das, worüber wir vor ihrem Tod nicht mehr gesprochen haben,wofür ich mich hätte entscheiden sollen, und ob sie sich beim Begräbnis Joni Mitchell gewünscht hätte? Natürlich hätte sie das, etwas aus »Clouds« zum Beispiel! Aber ich beschäftigte mich in diesen Tagen mit anderen Dingen als mit der Planung von Ritualen. Deshalb sitze ich jetzt in der Straßenbahn wie ein Blödmann und starre auf die Brüste eines jungen Mädchens. Es wäre zwecklos, wenn ich ihr erzählte, daß ich zum Friedhof fahre, um meine Frau zu begraben, in diesem Anzug, der mir zu klein ist. Aber auch in einem größeren hätte sie mir nicht geglaubt, daß der, der ihr da auf der anderen Seite gegenübersitzt, verheiratet gewesen ist, ein richtiger Ehemann war und von einem Augenblick zum nächsten Witwer wurde. Ich verspüre eine plötzliche Wut, weil sie wie eine Gans dasitzt und dümmlich in die Luft grinst, verständnislos, sich aber sehr bewußt ist, daß ich sie anstarre. Weil sie auf der Seite der Normalen ist, während ich zu den Unnormalen gehöre, die sich im Raucherzimmer des Krankenhauses aufhalten. Sie ist in der besseren Position. Sie denkt, ich würde sie begehren. Natürlich denkt sie das! Und da wirft sie mir tatsächlich einen Blick zu. Verdammt, das tut sie! Soll ich jetzt aufstehen, mich vor sie hinstellen und ihr sagen, daß ich direkt aus der geschlossenen Abteilung komme, daß ich mich für ihr Interesse bedanke, aber daß es mir heute bedauerlicherweise nicht möglich ist, sexuell mit ihr zu verkehren? Marianne hätte das gefallen. Sie hätte laut gelacht. Wenn ich überdies noch den Mund geöffnet und ihr die Narbe vom Angelhaken gezeigt hätte, wäre der Auftritt perfekt gewesen.
    Sie mustert mich jetzt völlig ungeniert. Ist das eine Aufforderung? Oder will sie mich nur lächerlich machen? Ich lasse mich von ihrem Blick provozieren und werde wütend. Plötzlich höre ich mich quer über den Gang schreien:
    »Was starren Sie mich so an, junge Frau? Wollen Sie mich vielleicht begleiten zur Bestattung meiner Frau?«
    Sie wendet den Blick ab und beginnt sofort zu kichern. Tiefer kann ich nicht sinken, denke ich.
    »Das ist mein Ernst«, schreie ich. »Keine große Zeremonie. Wollen Sie wirklich nicht mitkommen? Es kommt kein Priester, denn sie glaubte nicht an Gott. Danach Wein und Imbiß. Umsonst. Wenn etwas übrigbleibt, dürfen Sie sich sicher etwas in einer Frischhaltebox mit nach Hause nehmen!«
    Der Schaffner kommt.
    »Genug jetzt, junger Mann.«
    »Keine Bange«, sage ich bestimmt. »Ich steige hier sowieso aus.«
    »Das ist auch besser so.«
    »Klar. Das Krematorium wartet.«
    Ich stehe auf.
    Das Mädchen wirft mir einen letzten, mitleidigen Blick zu. Der Schaffner mustert mich kopfschüttelnd. Aufgebracht verlasse ich die Straßenbahn und marschiere energisch hinüber zum Friedhof.

    Ich komme gerade rechtzeitig. Sie stehen bereits vor der Tür zur Neuen Kapelle. Ärzte, Politiker der Linksparteien, der Direktor des Gesundheitswesens, Freunde und Freundinnen. Herrgott, gehörten so viele prominente Personen zu ihrem Bekanntenkreis? Ich habe nie einen davon gesehen. Sie wissen nicht, wer ich bin, das steht fest.
    Zwei schwarzgekleidete Männer stehen zu beiden Seiten des Eingangs. Sie hantieren mit den Programmheften. Ich sehe das Bild auf der Vorderseite. Ich erkenne es wieder. Marianne als Teenager. Etwa aus der Zeit, als sie sich mit der

Weitere Kostenlose Bücher