Die Frau im Tal
werde finden müssen.
Noch hat sie mich nicht verlassen. Die Sommerhitze drückt auf die Hauswände, aber drinnen ist es angenehm schattig. Unversehens steht sie in der Küchentüre und lächelt mir zu. Alles ist noch da. All ihre Sachen, die aber vor allem Bror Skoogs Sachen waren. Trotzdem entschied sie sich, dort zu leben, und geriet in ein inneres Chaos, dasunmöglich zu ertragen war. Eine moderne Anna Karenina. Die Russin, die sich vor den Zug warf, verzweifelt in ihrem Begehren und ihrer Eifersucht. Marianne war darüber empört. Sie brachte mich dazu, Tolstoj zu lesen, das war kurz vor unserer Abreise nach Wien, wo wir heirateten. »Wie kann eine Frau ihren Sohn verlassen, auch wenn sie noch so sehr in einen anderen als den Vater des Kindes verliebt ist?« Das sagte sie in der Gewißheit, daß sie Anja nie im Stich gelassen hätte, obwohl sie Bror Skoog verlassen wollte. Schuldgefühle plagten sie. In Anna Karenina fand sie eine Frau, die sich noch schlimmer verhalten hatte. Obwohl sie wütend war auf die Hauptperson des Romans, auf deren Wankelmütigkeit und Halbherzigkeit, gab ihr das Buch Trost.
Ich gehe im Skoog-Haus herum und denke an all diese Gespräche, die wir führten, und sie ist anwesend, ist bei mir, bereitet mich still und behutsam auf die Begegnung mit der Familie vor. In diesen Tagen ist die Trauer wie ein Rausch. Sie erzeugt in mir Wahnvorstellungen von Glück und Nähe. Was wir im Leben nicht erreichten, gelingt uns im Tod. Deshalb laufe ich mit schlechtem Gewissen im Skoog-Haus herum, quicklebendig. Sind es die Erinnerungen an das Leben vor Anja und vor Marianne, weshalb ich manchmal am Flügel stehenbleibe und denke: Bald werde ich kommen und wieder auf dir spielen? Selbst wenn die Ohnmacht wie ein stumpfes Messer auf die Brust drückt und mich buchstäblich in die Knie zwingt, verspüre ich Lebensdurst. Es tröstet mich, daß es auch Marianne so ergangen sein muß. Das Leben, das sie im Begriff war abzulehnen, bot ihr erneut einen Platz an. Sie fand den Platz bis zum nächsten Versuch und dem nächsten und dem nächsten. Ständig bot ihr das Leben einen Platz an. Erst als sie mich traf, wählte sie eine andere Lösung.Und damit, das weiß ich, werde ich leben müssen. Ihre Familie wird vielleicht auch so denken: »Erst als sie diesen Rotzbengel traf, gelang es ihr, das zu verwirklichen, was sie sich immer vorgenommen hatte!« Natürlich werden sie mir skeptisch begegnen, denke ich. Sie werden sich fragen, wer ich bin, ob mein Einfluß sich entscheidend auf die Labilität ihres Daseins in den letzten Monaten ihres Lebens ausgewirkt hatte. Und ich weiß, daß ich den Hundeblick aufsetzen und mich schuldig fühlen werde. Egal, was sie dazu getrieben hat, ich habe ihnen etwas weggenommen, ich habe die Schuld für alles, was ich nicht rechtzeitig sah und verstand.
Ich schlafe in Anjas Zimmer. Auf dem Kissen sind noch Mariannes Haare. Ihr Morgenrock hängt am Haken an der Tür. Ich schlafe in der Sehnsucht, von ihr zu träumen. Aber noch ist sie nicht in meinen Träumen. Statt dessen träume ich von ihrer Schwester. Sie will den Mund öffnen, will mir etwas sagen. Aber über ihr Gesicht hat sich ein dünnes Häutchen gelegt. Ich lege mein Ohr an ihre Lippen, um etwas zu hören. Völlige Stille.
Aber sie ist nett. Das kann ich hören.
Die Stille lügt nie.
Als der Morgen kommt, bin ich seit vier Stunden wach. Erst um acht Uhr stehe ich auf, dusche in Mariannes Dusche, die einmal auch Anjas und Bror Skoogs Dusche war. Ich versuche mir zu sagen, daß das, was ich jetzt durchmache, andere vor mir erlebt haben. Auch das. Ich stehe in der Dusche und weiß, daß ich mich wieder fein anziehen muß, wie zu einem Konzert. Den Anzug von Ferner Jacobsen. Gekauft für Hochzeit und Glück. Ich habe einige Tabletten aus dem Flügel geholt, muß zugeben, daß ichwieder Valium in mittlerer Dosierung brauche. Auf diese Weise verrinnen die Stunden in ihrer Ereignislosigkeit wie ein gleichmäßiger, langsamer Strom, ohne Höhen und Tiefen, ohne Trauer, sogar ohne Leere, weil da, wo die Leere hätte sein müssen, das Gefühl von Watte ist.
Ich nehme die Straßenbahn zum Friedhof. Ein Tag mit blauem Himmel und Sonne, da liegt man auf den glatten Felsen unten am Fjord. In meinem schwarzen, lächerlichen Anzug errege ich Aufsehen. Der Tod ist besonders brutal, wenn er im Frühsommer kommt. All die furchtbaren Verkehrsunfälle um diese Jahreszeit. Die Selbstmorde. Der Frühling ist erschreckend. Junge
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