Die Frau im Tal
hart geprüft wurde. Sie redet darüber, wie wichtig Marianne beim Kampf um die Abtreibung war. Das große sozialmedizinische Engagement, das sie als Gynäkologin nicht vollenden konnte. Sie spricht über die Tochter Anja, die viel zu früh starb,»wegen psychologischer Labilität«. Sie erwähnt auch am Rande die lange Ehe mit Bror Skoog und dessen Selbstmord vor einem Jahr. Sie sagt, daß kaum jemand härter geprüft worden ist als Marianne Skoog. Sie sagt, daß Marianne im letzten Winter besonders verzweifelt war, daß sie sich in die Arbeit und die Trauer gestürzt hat, daß das verständlich war. Sie dankt Marianne für ihren Einsatz als Freundin und Vorkämpferin und bewahrt sie in ehrendem Andenken.
Mich erwähnt sie mit keinem Wort.
Es ist besser so, denke ich. Sie hat wahrscheinlich nicht einmal von mir gehört. Ein kleiner Spatz von einer Frau tritt auf und singt: »Somewhere over the Rainbow« zu einer verwaschenen und unsicheren Klavierbegleitung mit vielen Patzern. Dann wird ein Gedicht vorgelesen. »Die Wanderin« von Hans Børli und etwas von Gunvor Hofmo, bis ich merke, daß ich an der Reihe bin, um »Elven« zu spielen, auf einem schlechten Klavier, das nicht gestimmt ist. Kaum jemand weiß, wer ich bin. Daß ich der Ehemann bin. Auch das ist besser so, sage ich mir. Ich hatte so wenig mit Mariannes Bekanntenkreis zu tun. Ich war zu jung und unbedarft. Um zu überleben, mußten wir für uns sein. Für andere war zwischen uns kein Platz. Wirklich? Für keine anderen?
Dann ist alles vorbei. Dann wird der Sarg hinuntergelassen. Dann hört man lautes Schluchzen. Es ist Ida Marie Liljerot, die weint. Ihre Tochter weint. Sogar Eirik Kjoren läßt ein Schluchzen hören.
Nur ich und Marianne weinen nicht.
Die Feierstunde
Wir stehen in einem Lokal und trinken Wein, alle Trauergäste. Die »meinen« kommen einer nach dem andern zu mir. Ich habe das Gefühl, allen die Hände zu schütteln. Torfinn und Selma Lynge umarmen mich.
»Es war schön, daß du gespielt hast«, sagt Selma Lynge, obwohl ich genau weiß, daß es ihr lieber gewesen wäre, wenn ich etwas Klassisches gespielt hätte. Die Goldberg-Variationen zum Beispiel. Ihr Mann nickt und kichert und findet offensichtlich die ganze Veranstaltung schrecklich.
Dann kommt W. Gude und drückt mich unbeholfen an sich.
»Furchtbar, wie du jetzt leidest. Und ganz unverdient«, sagt er kurz.
»Hast du mich im Krankenhaus besucht?« frage ich.
»In welchem Krankenhaus?« fragt er verwirrt.
Dann begrüße ich Gabriel Holst und seine hübsche Jeanette. Sie umarmt mich, obwohl wir uns nicht kennen.
»Immerhin ist es kein Doppelbegräbnis«, sagt Gabriel Holst lakonisch.
Ich nicke und versuche, mir auf die Zunge zu beißen.
Dann ist Rebecca an der Reihe. Sie hält mich mit beiden Armen fest und weint leise.
»Ich begreife nicht, wie es dir möglich war, zu spielen«, sagt sie.
»Bleibst du ein wenig da?« frage ich.
»Nein, ich muß wieder zu Christian«, sagt sie rasch und löst den Griff.
Ich bleibe bei Sigrun Liljerot und ihrem Mann stehen.
»Du siehst ihnen so ähnlich«, sage ich.
»Wem?«
»Anja und Marianne.«
»Tue ich das?«
»Es wurde immer gesagt, Sigrun sei die jüngere Ausgabe von Marianne«, mischt sich Eirik Kjosen ein. Er hält seine Frau mit festem Griff.
»Ihr lebt in Nordnorwegen?« sage ich.
»Ja. Sigrun ist Distriktsärztin für Sør-Varanger«, sagt Eirik Kjosen. »Und ich bin Lehrer an der Internatsschule.«
»Lehrer für was?« frage ich.
»Sport und Musik«, sagt er.
»Dir steht der Schweiß auf der Stirn«, sagt Sigrun Liljerot.
»Ich kann es nicht fassen, daß du ihnen so ähnlich siehst«, sage ich.
»Das ist doch nicht weiter verwunderlich«, sagt sie.
»Warum erinnere ich mich nicht an dich von Anjas Begräbnis her?«
»Ich war schwanger.« Kaum hat sie es ausgesprochen, sehe ich, daß Eirik Kjosen unruhig wird. »Ich habe das Kind unmittelbar vor dem Begräbnis verloren. Ich habe mich ganz hinten im Krematorium versteckt und mich auch nachher nicht sehen lassen.«
Eirik Kjosen bewegt lautlos die Lippen, während seine Frau spricht.
»So etwas kommt immer mal wieder vor«, stellt er fest. »Aber vorbereitet ist man auf so etwas nie, oder?«
Sie wird von anderen Familienmitgliedern in Beschlag genommen. Menschen, die sie lange nicht gesehen hat. Vettern und Kusinen. Großonkel. Entferntere Verwandte. Sie begrüßt alle. Erik Kjosen weicht keinen Zoll von ihr.
Ich suche mir eine stille Ecke. Ich spüre
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