Die Frau im Tal
düsteren Haus, von den Examina und den Linealen, dem Wissen, das sie mir einbläuen wollte, damit ich letztlich Beethoven und Chopin genau so spielen kann, wie sie es selbst gespielt hätte. Ich weiß, daß sie mir fehlen wird. Die Gemeinschaft, die wir hatten, die Sicherheit, die sie mir gab, weil sie die erste war, die meine Schwachpunkte hörte und die mich liebte, wenn ich stark war.
Ich sehe sie im Fenster. Reglos steht sie da, ein schwarzer Schatten.
Ich weine. Ich winke immer noch.
2. Teil
Garnelenschnittchen mit W. Gude
Im Blom mit W. Gude. Mineralwasser, Kaffee und Garnelen auf Toast. Diese seltsame Kombination im Norden. Ein Volk, das zu allem Kaffee trinkt. Er trägt ein weißes Hemd und Krawatte. Der Kopf ragt senkrecht nach oben, und sein Straußenblick hinter der Brille huscht ruckartig nach allen Seiten. Der alte Sprinter. Er will immer vor allen andern ins Ziel kommen.
»Du mußt mir eine Tournee in Nordnorwegen zusammenstellen«, sage ich.
»London, München und Paris«, sagt W. Gude.
»Mehamn, Kirkenes und Pasvik«, sage ich.
Jetzt horcht er auf. »Du nimmst mich auf den Arm?«
»Nein, es ist mein voller Ernst.«
»Du weißt, daß du in der neuen Saison mit der Philharmonie Brahms spielst.«
»Nein, Rachmaninow.«
»Von Rachmaninow war nie die Rede. Selma und ich, wir haben es besprochen. Wir wissen, was für dich am besten ist.«
»Nordnorwegen«, sage ich. »Vielleicht kann ich da oben bleiben. Vielleicht finde ich Ruhe zum Üben.«
W. Gude schaut mich bekümmert an.
»Was geht hier vor?« sagt er.
»Ich habe mich von Selma Lynge getrennt«, sage ich.
»Du weißt nicht, was du tust«, heult er mit schielenden Pupillen.
»Sie weiß, daß sie mir nichts mehr beibringen kann.Trotzdem wollte sie mich auf ihre raffinierte Art halten.«
W. Gude zuckt die Schultern. »Was soll ich dazu sagen«, murmelt er.
»Vertraust du mir nun oder nicht?« frage ich. »In einem Traum erzähltest du mir, ich solle Rachmaninow spielen. Ich glaube an Träume.«
»Wir haben alles für dich vorbereitet«, sagt er beleidigt. »Mit Brahms, das wäre die Sensation geworden, mein Junge.«
»Ihr habt nur vergessen, mich zu fragen.«
In W. Gudes Augen zeigt sich ein Anflug von Trauer. Er weiß nichts von Sigrun Liljerot. Er hat keine Ahnung, worauf ich mich einlassen will.
»Was erwartest du von mir?« sagt er und zwinkert hinter den Brillengläsern hilflos mit den Augen.
»Daß du mir zuhörst und mich ernst nimmst«, sage ich. »Ist das zuviel verlangt?«
»Ich verstehe dich nicht«, sagt er.
»Hast du den Lunch vor einem Jahr vergessen? Anja war dabei. Du hast von Rubinstein erzählt, von seiner Warnung an uns junge Virtuosen. Daß wir nicht zuviel üben dürften. Daß das Leben aus mehr bestünde als nur Musik. Daß es Frauen, Wein und Bücher gebe.«
»Ich dachte nicht, daß du momentan so etwas im Kopf hast?«
»Ich soll mich in Trauer ersäufen und Brahms üben?«
»Du hast selbst gesagt, daß Brahms für dich der Größte ist. Das B-Dur-Konzert. Für mich bist du im Moment der talentierteste Springer. Die Holmenkollenschanze steht zu deiner Verfügung. Aber du stehst oben und verzichtest auf den Sprung. Nicht aus Angst, denn die Schanze meisterst du. Sondern weil es dich nicht interessiert.Weil du lieber einen Spaziergang im Wald machen möchtest.«
Ich denke nach über das, was er sagt. Ich verstehe, was er meint.
»Halte mich nicht für undankbar«, sage ich. »Wir lieben beide die Musik, jeder aus seiner Sicht. Du verdienst Geld damit. Ich werde vielleicht auch Geld damit verdienen. Möglicherweise befinden wir uns letztlich auf der gleichen Seite, aber das ist noch nicht soweit.«
»Ich bin nicht so zynisch«, sagt W. Gude fast zornig.
»Das weiß ich«, sage ich. »Aber es ist trotzdem eine Tatsache. Du bist der Profi, ich bin der Anfänger. Brahms’ B-Dur ist der weiteste Sprung. Aber ich will nicht fliegen. Nicht so. Ich kann nicht am Flügel sitzen und mit einem fröhlichen und schelmischen Rondo enden, das dahinhüpft, als sei nichts geschehen.«
»Ich dachte, du liebtest das Konzert.«
»Ja, ich liebte es.«
»Aber Rachmaninow«, sagt W. Gude nach einer Denkpause. »Das ist doch beinahe banal?«
»Demnach ist die Trauer banal.«
Er schüttelt den Kopf. »Hier läuft etwas ganz verkehrt. Aber ich glaube an dich. Und ich habe keine Wahl. Ich werde tun, was du sagst.«
»Es handelt sich nicht nur um eine Tournee. Ich gedenke, dort oben zu bleiben.«
»Warum?« Er starrt
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