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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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wieder in Gang bringen mußt.«
    Ich muß lachen.
    »Das stimmt«, sage ich. »Deshalb komme ich zu dir.«
    »Was willst du von mir?« sagt sie angespannt. »Du solltest schon wieder in Wien sein. So war es doch geplant? Daß ich dich bis zu deinem Debüt begleite, das du auf hervorragende Weise gemeistert hast, trotz allem, was geschehen ist. Du solltest hinaus in die Welt, solltest studieren an der Hochschule für Musik. Ist es nicht das, was du sagen willst?«
    »Ich weiß nicht. Ich komme in erster Linie, um mit dir zu reden.«
    »Aber ich bin nicht länger deine Klavierlehrerin. Es ist meine Pflicht, dich zu verstoßen, wie eine Katzenmutter ihre Jungen verstoßen muß, wenn sie groß genug sind. Ich beziehe inzwischen meine Honorare vom Land Bayern. Aber trotzdem …«
    Ich nicke, unterbreche sie. »Weil du eigentlich an einer Forschungsarbeit über den Einfluß der süddeutschen Volksmusik auf Richard Strauss sitzt.«
    »Ja, das habe ich gemeint.«
    Sie schaut aus dem Fenster, kann nicht ruhig sitzen. Es ist so offensichtlich, was sie von mir hören will. Ich soll sie anflehen, daß ich doch bei ihr weitermachen darf, hier oder in München, daß wir einen neuen und stärkeren Pakt schließen, daß sie mich völlig vereinnahmen soll, mich bis zu ihrem Tod begleiten soll, Repertoires auswählen, Tempi bestimmen, schließlich vielleicht sogar den Anzug auswählen, den ich auf dem Podium anziehe. Mir fallen die Trainer beim Eiskunstlauf ein, wenn sie von der Fernsehkamera eingeblendet werden. Sie sind nervöser als die Sportler selbst. Sie heulen in aller Öffentlichkeit oder schlagen wild um sich. Als ginge es nur um sie. Aber ich merke, daß ich ihr nicht länger entgegenkommen kann. Als hätte mich Marianne durch ihren Tod weit hinausgeschleudert in tiefes Wasser. Es liegt jetzt allein an mir , festzustellen, ob ich schwimmen kann, ohne sie und Anja. Sie vergaß Sigrun.
    »Du warst eine außerordentlich begabte Pianistin«, sage ich.
    Sie nickt, unzufrieden, weil ich nicht auf den Köder reagiert habe, den sie mir hinwarf. »Ich dachte, ich hätte eine glänzende Karriere vor mir. Du wirst es selbst noch merken, daß vieles, was als wichtig erschien, mit einemmal unwichtig werden kann.«
    »Diese Erfahrung habe ich bereits gemacht.«
    »Ja, das hast du wohl.«
    Sie wendet mir wieder ihr Gesicht zu, schaut mich plötzlich bittend an.
    »Du bist nicht hergekommen, um mir zu sagen, daß du nicht mehr bei mir spielen willst? Du fährst jetzt nicht zuSeidlhofer? Oder nach London? Oder Paris? Du weißt, daß du von mir viel mehr lernen kannst?«
    »Ich fahre nach Kirkenes«, sage ich.
    »Kirkenes?« Sie spuckt das Wort förmlich aus, daß mich kleine Tröpfchen direkt im Gesicht treffen.
    »Die Stadt oben an der Eismeerküste. An der Grenze zur Sowjetunion.«
    »Ach die.« Selma Lynge lacht ein lautes, gellendes Lachen. Aber dann sieht sie an meinem Blick, daß ich nicht spaße. »Das Ende der Welt? Was willst du dort?«
    »Mich wiederfinden. Ein Jahr Auszeit nehmen. Nachdenken.«
    Sie starrt mich spöttisch, fast ungläubig an.
    »Ist dir der Erfolg zu Kopf gestiegen? Du hältst dich wohl für einen reifen, fertigen Künstler, nur weil du debütiert hast? Du bist nicht ganz gescheit. W. Gude wird dir das nicht erlauben. Er hat bereits eine Tournee für dich vorbereitet. Du wirst nächstes Frühjahr, am 13. Mai, mit der Philharmonie das B-Dur-Konzert von Brahms spielen.«
    »Das habt ihr festgelegt, ohne mich zu fragen?«
    »Ja, weil du selbst gesagt hast, es sei dein größter Wunsch, dieses Konzert zu spielen. Bevor du debütiert hast, dachte ich, es sei zu schwer für dich. Es ist ein Konzert für einen erwachsenen Mann. Der noch stark genug ist, aber auch Erfahrung hat. Ich kenne keinen in deinem Alter, der sich schon so früh daran gewagt hätte. Aber wenn du Beethovens op. 110 spielen kannst, schaffst du auch Brahms. Du hast die Kraft und beherrschst die Oktavtechnik. Und nun hast du vielleicht, brutal ausgedrückt, auch die Erfahrung.«
    »Ja«, stimme ich zu und verliere mich für einen Moment in Erinnerungen. Brahms war meine Welt. Und die Weltmeiner Mutter. Groß und hell und voller Zukunft. Das Konzert in B-Dur. Eine Sinfonie für Klavier und Orchester. Der erste, zweite und dritte Satz sind Romane, ›Brüder Karamasow‹ als Musik. Aber dann folgt am Schluß das unverständliche Rondo, das mir trotz des sentimentalen, slawischen Nebenthemas momentan allzu hell und fast fröhlich erscheint. Ich kann nach

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