Die Frau im Tal
habe, sitzen einwandfrei. Aber dann merke ich, daß mich der Dirigent so seltsam mustert. Er schaut auf meine Finger, die mit großer Geschwindigkeit über die Tasten laufen. Da verstehe ich. Es kommt kein Ton. Ich habe keine Kraft! Ich bin nicht einmal imstande, die Töne anzuschlagen, die Tasten zu drükken. Ich spiele in der Luft. Keiner kann hören, wie gut ich bin. Niemand versteht, wie perfekt mein Spiel ist.
Ich laufe rot an.
Ich erröte so, daß die Haut brennt.
Im Zuschauerraum sitzen Anja und Marianne.
Ich starre sie verzweifelt an, aber sie tun so, als würden sie mich nicht kennen. Ihr Augenmerk ist ganz auf den Dirigenten gerichtet.
Bald wird der Raum zu warm. Die rote Notbeleuchtung über dem Eingang des Saales beginnt zu blinken. Da geht etwas schrecklich schief.
Ich kann es nicht länger verbergen. Mit mir ist etwas nicht in Ordnung!
Die Röte tropft wie Blut vom Gesicht und färbt das weiße Hemd.
Dinner im Hotel
Es ist spätabends, als ich erwache. Zuerst bin ich desorientiert, starre auf all den Speichel auf dem Deckbett. Ich bin ohne Zeitgefühl, merke nur, daß mein Gesicht geschwollen ist. Es ist viel zu warm im Zimmer, der elektrische Heizkörper unter dem Fenster läuft auf höchster Stufe. Ich stehe auf und stelle fest, daß ich den Mantel anhabe und nach Schweiß rieche. Ja genau, denke ich, der Traum hat eine wahre Aussage. Ich bin ein Leichtgewicht. Ein stinkender Tagedieb, der vorhat, für ein Essen zu spielen, der den übriggelassenen Wein trinkt, vielleicht auch Tafelmusik spielt zur Unterhaltung. Warum nicht? Sogar Marianne, die so weit unten war, ertrug es nicht, mit mir zu leben. War der Gedanke an mich und das Kind, das sie austrug, so schrecklich, daß der Tod die bessere Alternative darstellte? Ich stehe vor dem Spiegel im Bad und sehe, wie schrecklich ich ausschaue. All diese Monate des Alleinseins haben ihre Spuren hinterlassen. Das macht nichts, denke ich. Ichwollte immer älter sein, als ich bin. Die Falten lassen mich nur maskuliner erscheinen, wie Marianne einmal sagte. Ich verspüre eine Sehnsucht nach Alkohol. Ja, heute abend werde ich mich betrinken! Aber vorher werde ich mich für die Flaschen schmücken, werde duschen und mich feinmachen. Während die warmen Strahlen der Dusche meine Nervenbahnen treffen und sie entwirren, so daß ich jede einzeln spüre, denke ich an die rosa Tablette, die ich als erstes nehmen werde, danach kommen die Flaschen und Gläser, die ich trinken will. Weißwein, Rotwein, Kognak. Ich werde allein im Restaurant sitzen und still trinken, bis zur körperlichen Ohnmacht. Ich werde lange Gespräche mit Rachmaninow führen und ihn fragen, warum die russische Seele einen so gewaltigen Ausdruck hat. Und ich werde ihm sagen, wie traurig ich bin, daß sich Puschkin auf ein Duell eingelassen hat.
Danach werde ich drei Tage und Nächte ununterbrochen schlafen.
Ich habe meinen besten Anzug angezogen. Feierlich und schwarz und bestens geeignet für Klavierkonzerte und Begräbnisse. Niemand soll denken, ich sei ein gewöhnlicher Alkoholiker oder Drogenabhängiger. Direktor Gunnar Høegh hat bereits einen Standard vorgegeben. Die besten Weine. Wenn man schon kein Geld hat, muß man wenigsten gut essen und trinken.
Ich fahre mit dem Aufzug hinunter zur Rezeption, nicke freundlich der blassen Frau hinter dem Tresen zu mit ihren süßen, kleinen Pickeln, der Synthetikbluse und dem cremefarbenen Haar. Ihre einfache Schlichtheit wirkt sofort angenehm auf mich.
»Ich vermute, daß sich das beste Restaurant der Stadt in diesem Gebäude befindet?« sage ich freundlich.
Sie fängt zu kichern an. Ich höre nun selbst, wie dumm das klang. Sie ist etwa so alt wie ich.
»Doch ja, wir sind bekannt für gutes Essen«, sagt sie mit einem Lächeln.
Ich betrete erwartungsvoll das Restaurant, als würde ich den Konzertsaal des Musikvereins betreten, um zu erleben, wie Karajan Brahms dirigiert. Ein junger und eifriger Ober eilt mit der Speisekarte in der Hand auf mich zu.
»Wie viele Personen?« fragt er unterwürfig. Der dunkle Anzug und die lächerliche Krawatte, ein Aufzug, den mir Marianne immer verbot, zeigen ihre Wirkung.
»Ich bin allein«, sage ich.
Er führt mich ins Lokal. Auf allen Tischen brennen Kerzen, aber kein Mensch ist zu sehen. Ich spüre Freude in mir aufsteigen.
»Ich nehme den Ecktisch am Fenster«, sage ich.
»Ganz wie Sie wünschen«, sagt der junge Ober in singendem Finnmarksdialekt.
Ich setze mich, festlich gestimmt. Mache ich
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