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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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den Rauch, den die Schlote ausspeien? Außerhalb des Zentrums liegt das große Nickelwerk. Norilsk Nikel.«
    »Und ich dachte, ich käme ans Ende der Welt«, sage ich, »Wo zumindest die Luft sauber ist. Wie sieht es mit der Lebenserwartung in Pasvik aus?«
    »Die ist anders. Die Stadt liegt immerhin acht Kilometer von der Grenze entfernt.«
    »Trotzdem sieht man die Schornsteine deutlich.«
    »Ja, ist das nicht faszinierend? Und Nikel ist angebunden an das große sowjetische Schienennetz. Dort drüben fängt eine völlig andere Welt an, mit anderen Gesetzen und Regeln als bei uns. Interessierst du dich für die Sowjetunion?«
    »Ich interessiere mich vor allem für Rachmaninow«, sage ich entschuldigend. »Ich möchte in diesem Winter sein c-Moll-Konzert einüben. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, das hier oben zu tun.«
    Sie nickt. »Die Nummer 2, sagst du? Die ist stark. Eine Kollegin von mir, auch Ärztin, erzählte einmal, der Komponist sei manisch-depressiv gewesen. Ich verstehe irgendwie, was sie meinte.«
    »Ich auch. Der Komponist gab nicht auf. Er schlug sich ständig mit diesen heftigen Gefühlen herum, egal, ob er sich im tiefsten Süden aufhielt oder im höchsten Norden.Rachmaninow hat die Nummer 2 seinem Psychiater gewidmet, Dr. Nicolai Dahl.«

    »All das Russische«, sagt sie plötzlich, »bewirkt etwas in uns. Das Land liegt direkt auf der anderen Seite des Flusses. Trotzdem ist es sehr schwierig, dorthin zu kommen.«
    »Bist du dort gewesen?«
    »Ich war in Murmansk und Nikel. Aus ärztlicher Sicht ziemlich frustrierend. Das viele Elend. Oft die pure Not. Aber dann waren Eirik und ich einige Male zusammen mit der Schule in Moskau und Leningrad. Die Schule hat sich vorgenommen, daß die Kinder Rußland besser verstehen sollen als so manche norwegischen Generäle. Wir stimmen uns ein auf die russische Kultur. Puschkin, Dostojewski, Gorki und Gogol. Rimski-Korsakow und Mussorgski. Das Bolschoi und Kirow. Wir haben uns die großen Opern angeschaut. ›Eugen Onegin‹ und ›Das Mädchen von Pskoff‹. Und wir sahen ›Boris Godunow‹ im Kreml, im Kongreßpalast.«
    Sie erzählt Einzelheiten der Reise, ein Restaurant in Arbat, in dem sie und Eirik waren. Sie erzählt von der norwegischen Botschaft und den phantastischen Räumen. Sie redet sich warm. Erinnert sich. Die Augen glänzen. Sie erzählt vom Newski-Prospekt und dem Heumarkt, all den Orten, die Dostojewski in Schuld und Sühne detailliert beschreibt. Sie spricht über Gogols Novellen und über den absurden Realismus.
    »Aber am meisten erinnere ich mich an die Leningrad-Philharmonie und Arvid Jansons«, sagt sie. »Sie spielten Schostakowitsch. Die siebte Sinfonie, die die Belagerung von Leningrad zum Thema hat. Das werde ich nie vergessen. Die Fähigkeit des Komponisten, episch zu sein undeine schreckliche Geschichte zu erzählen, ohne zu vergessen, daß sich auch ein Himmel über das Schlachtfeld wölbte. Das können nur die Russen.«

    Wir haben den alten militärischen Beobachtungsposten auf Höhe 96 passiert und nähern uns Melkefoss. Wir fahren weiterhin im Tal nach oben.
    »Warum hast du dir etwas so Extremes vorgenommen«, fragt sie plötzlich. »Rachmaninow hier im hohen Norden einzuüben?«
    »Du hast es eben gesagt«, sage ich. »Um eine schreckliche Geschichte zu erzählen, ohne die Schönheit zu vergessen. Besteht darin nicht die Hauptaufgabe der Kunst? Ich hatte instinktiv das Gefühl, ich müsse Rußlands Atem spüren, um Rachmaninow richtig verstehen zu können. Das ist gar nicht so romantisch, wie es sich anhört. Die Landschaft macht etwas mit uns, meinst du nicht?«
    »Natürlich.«
    »Kanada machte etwas mit Glenn Gould. Rußland machte etwas mit Rachmaninow.«
    Sie mustert mich einen Moment mit dem Blick der Ärztin. Dann wendet sie sich ab und zündet sich eine Zigarette an. Ich taste nach der Zigarettenpackung und mache dasselbe. Sie raucht Filterzigaretten. Keine Selbstgedrehten, wie ich und Marianne es getan haben.
    »Vielleicht kann die Finnmark etwas mit mir machen«, fahre ich fort. »In jedem Fall finde ich es richtig, hergekommen zu sein. Vielleicht kann ich meine Gedanken ordnen, meine Gefühle unter Kontrolle bekommen.«
    »Die Gefühle unter Kontrolle bekommen, das ist wichtig«, sagt sie. »Als ich das erste Mal hier in den Norden kam, konnte ich wochenlang nicht schlafen. Alles war so neu und intensiv. Ich hatte gerade Eirik kennengelernt …«Ihre Gedanken schweifen weit ab. »Aber damals war Mai. Jetzt ist

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