Die Frau im Tal
September. Die dunkle Zeit liegt vor uns.«
»Ich brauche kein Tageslicht«, sage ich.
»Weißt du eigentlich, wie kalt es hier wird? Schrecklich kalt. Deinen Pianistenfingern wird das nicht guttun. Letzten Winter hatten wir zwei Wochen lang um die 40 Grad unter Null. Die Haut wird ganz trocken. Wenn ich lange Geige übte, wurden meine Fingerkuppen wund.«
»Ich habe wollene Fingerhandschuhe.«
Sie kichert.
»Fingerhandschuhe? Wo glaubst du denn, daß du bist? Im Frognerpark? Du kannst dir von Eirik gute Polarhandschuhe leihen.«
Eirik. Ich weiß ja, daß es ihn gibt. Sie erwähnt ihn ständig. Aber es ist mir noch nicht gelungen, ihn für mich einzuordnen.
»Spielst du zusammen mit Eirik?« frage ich.
»Selbstverständlich. Sein Instrument ist die Gitarre. Aber wir haben in dem Blockhaus, in dem wir wohnen, auch ein altes Klavier. Er spielt gerne die rumänischen Tänze von Béla Bartók. Und ich glaube, er würde auch Brahms’ Violinsonate in A-Dur schaffen, wenn er genügend Zeit zum Üben hätte. Alle wollen sie etwas von ihm. Er ist ein phantastischer Lehrer.«
Ich schaue sie an, während sie von ihrem Mann erzählt. Sehe die Begeisterung in ihren Augen. Sehe, wie sie und er eine gemeinsame Geschichte haben, von der sie mir ein bißchen etwas vermitteln möchte.
»Man hat ihm eine Stellung als Musikpädagoge am Konservatorium in Tromsø angeboten. Aber er entschied sich für Pasvik, für die Internatsschule, zog das Bekannte der Karriere vor.«
»Wie selbstlos von ihm.«
»Ganz recht«, sagt sie.
Wir fahren weiter zwischen Bäumen aufwärts.
»Es riecht nach Schnee«, stellt Sigrun fest.
»Ist das nicht zu früh?«
»Nicht hier oben. Du bist in dem Teil Norwegens, wo vieles unerwartet passiert.«
»Wie schön. Das mag ich.«
»Aber nicht alles, was passiert, muß auch schön sein. Wir haben Bären hier oben, wie du weißt. Es ist erst ein paar Jahre her, da mußte Eirik einen erschießen, aus Notwehr. Das ist nicht lustig.«
»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sage ich, »daß an manchen Stellen dieser Welt die Menschen nur mit dem Gewehr in die Natur gehen können.«
»Nicht um Skogfoss natürlich. Aber wenn man tiefer in die Wälder geht, ist das unerläßlich. Pasvik hat die größte Bärenpopulation in Norwegen.«
»Hier oben gibt es zweifellos viele Extreme.«
»Du sagst es. Und das tröstet uns, wenn uns die Natur klein und unsicher macht.«
»Tut sie das?«
»Nicht mehr als eine Großstadt, die einen Menschen zerbrechen kann. Aber um zu überleben, müssen wir wissen, wo wir sind. Und das wissen nicht alle.«
»Und dann ist es dein Job, dich um die Kranken zu kümmern. Merkwürdig, daß ihr alle beide, du und deine Schwester, euch für den Arztberuf entschieden habt. Ihr seid euch ähnlich und doch so verschieden.«
»Bei mir war es wie gesagt Zwang. Ich habe das Studium ohne die geringste Freude absolviert. Jetzt denke ich anders darüber. Ich verzichtete zwar auf eine Karriere alsBerufsmusikerin, fand aber in der medizinischen Fakultät eine ganze Reihe begeisterter Musikliebhaber.«
»Wo hast du eigentlich Eirik kennengelernt?«
»Bei einem Kurs für Kammermusik an der Volkshochschule Sund. Er spielte die Klavierstimme in César Francks Klavierquintett. Die ist ziemlich schwierig.«
»Ihr habt euch also in der Musik gefunden?« sage ich.
»Nichts ist leichter, als einander in der Musik zu finden«, sagt sie.
Ankunft in Skogfoss
Es freut mich, daß ich so zwanglos mit ihr reden kann. Aber der Kopf schmerzt. Ich bin erschöpft und nervös, weiß nicht, worauf ich mich da einlasse. Meine Stimmung wechselt ständig. Sie bemerkt es, und als der Lada auf das Internatsgelände in Skogfoss einbiegt, spricht sie es an.
»Es ist schön gewesen, sich mit dir zu unterhalten, Aksel. Aber glaubst du wirklich, daß du dieses Konzert heute abend geben kannst?«
»Natürlich«, sage ich.
Aber kaum habe ich es gesagt, krampft sich der Magen zusammen. »Ich bin es nicht gewöhnt, vor Leuten zu spielen. Als ich das letzte Mal vor Publikum spielen sollte, saß ich in der Künstlergarderobe unter der Aula in Oslo auf der Toilette. Am meisten bin ich es gewöhnt, für Selma Lynge zu spielen. Wenn ich für ein Publikum gespielt habe, ist jedesmal etwas schiefgegangen. Um auftreten zu können, brauche ich ein Minimum an Selbstsicherheit. Ganz besonders jetzt. Verstehst du das?«
Sie nickt.
»Es ist noch nicht einmal drei Monate her«, sagt sie.»Das ist eine kurze Zeit. Ich rede als
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