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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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ich. Es ist kalt hier. In diesem Raum muß jemand gestorben sein. Ich fühle es. Ich setze mich auf das Bett und schaue mich um. Außer mir ist noch jemand da. »Hallo?« rufe ich. Aber niemand antwortet. Ein kalter Luftzug streift mich. Fremde Leben, das nicht gemachte Bett im Nebenzimmer. Vielleicht liege ich heute nacht Wand an Wand neben diesem Fremden. Vielleicht hören wir einander, wenn sich einer herumwälzt, wenn sich einer umdreht. Vielleicht sind zwei da drüben. Vielleicht lieben sie sich. Vielleicht bin ich unfreiwillig Zeuge persönlichster Intimitäten, während ich in meinem eigenen Leben eingesperrt bin.
    Wieviel Wodka kann ich im Laufe eines Tages trinken? Es muß eine Grenze geben. Sigrun kannte diese Grenze, als sie mir die Thermosflasche gab. Sie hielt mich im Gleichgewicht. Nicht zuwenig. Nicht zuviel. Ich muß dieses Gleichgewicht ohne sie finden. Ich muß künftig lernen, welches Quantum das richtige ist. Niemand darf etwas merken. Nur ich. Ich muß mich ruhigstellen. Die Klarheit mit dem ersten Schluck. Was den Alkoholikern nicht gelingt. Ich muß es schaffen.
    Ich setze mich ans Telefon. Ich muß W. Gude anrufen.
    Er nimmt sofort ab. Die vertraute, wiehernde Stimme.
    »Bist du es, mein Junge?« sagt er sofort, als er meine Stimme hört. »Ist es gestern gut gelaufen?«
    »Phantastisch«, sage ich. »Die Internatsschule von Svanvik hat alles, was der Herkulessaal nicht hat.«
    »Und das wäre?«
    »Direktheit. Menschlichkeit.«
    Er lacht amüsiert, meine Ausdrucksweise hat ihm immer gefallen. »Weil du für Gleichaltrige spielst«, sagt er. »Paß nur auf, daß du mit den hübschen Mädchen nicht zu viele Kinder bekommst. Es wird anstrengend, die vielen Geburtstage zu feiern. Ganz zu schweigen von den Konfirmationen. Diese Vaterschaften haben schon manchen Rockstar das Leben gekostet. Solche Geschichten gibt es neuerdings auch im Bereich der klassischen Musik. Ein amerikanischer Geiger, den ich kenne, hat mit drei verschiedenen Müttern Töchter und alle sind am selben Tag geboren!«
    »Tatsächlich?« lache ich. »Dann hast du mein Motiv, warum ich in den Norden gegangen bin, bereits durchschaut?«
    W. Gude heult entzückt. »Längst«, sagt er. »Und jetzt bist du in Vadsø, und Zahnarzt Henriksen hat dich herzlich empfangen? Er ist übrigens der größte Haydn-Spezialist, den wir hierzulande haben.«
    »Nein«, sage ich. »Das ist das Problem. Ich bin in Kirkenes hängengeblieben. Habe das Schiff verpaßt.«
    »Das Schiff verpaßt?« W. Gudes Stimme ist schneidend wie eine Stahlplatte. »Katastrophe. Warum hast du das nicht früher gesagt? Das Konzert soll ja in Kürze beginnen!«
    »Das ist schwierig zu erklären. Die Eismeerküste ist kein Vorort von Oslo. Da gibt es nicht so viele Verkehrsverbindungen und …«
    »Spar dir deine Ausreden! Komm nie wieder damit!«
    »Ich dachte, ich könnte die Tournee um einen Tagverschieben. Ist das nicht möglich? Wenn ich statt dessen morgen in Vadsø spiele?«
    W. Gude wird ganz still. Dann explodiert er.
    »Mein Bester. Was glaubst du wohl, wer diese Leute sind? Sind sie weniger wert, weil sie dort oben leben? Glaubst du, du könntest dir das auf einer Tournee in Europa erlauben? Im Concertgebouw in Amsterdam anrufen und sagen, daß du leider einen Tag später kommst? Das konnte nicht einmal Ole Bull! Das war jedenfalls die totale Ausnahme und nur, weil damals die Straßen so schlecht waren.«
    »Es tut mir außerordentlich leid …«
    »Dazu hast du allen Grund! Du führst dich auf wie ein Lümmel vom Land. Was denkst du dir eigentlich? Einen Tag später? Auf der gesamten Tournee? Vadsø ist gestrichen. Mir graut davor, Henriksen anzurufen. Jetzt geht es darum, schnellstmöglich nach Båtsfjord zu kommen. Wie sollen wir das hinkriegen?«
    »Morgen erreiche ich natürlich die Hurtigrute. Sie verläßt Kirkenes um Viertel nach eins und ist um halb neun abends in Båtsfjord.«
    »Das ist doch zu spät!« schreit W. Gude so laut, daß ich förmlich den Geruch seiner Zigarre zu riechen meine.
    »Eine knappe Stunde werden sie warten können«, sage ich schwach.
    »Weil sie auf einen großen Künstler warten? Paß auf, Aksel Vinding. Du befindest dich auf dem Holzweg. Es hilft nichts, hier private Tragödien als Vorwand zu nehmen. Du bist auf einer Tournee. Da hast du die gleichen Verpflichtungen wie der Ministerpräsident des Landes.«
    »Ich verstehe«, sage ich leise.
    »Ich muß sofort in Båtsfjord anrufen«, bellt er. »Das ist das erste und das

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