Die Frau im Tal
letzte Mal. Hörst du? Es gibt für michnichts Schlimmeres als zu früh die Primadonna zu spielen.«
»Ich schäme mich«, sage ich.
»Das solltest du auch«, sagt er.
Der Traum
In der Nacht melden sich die alten Gedanken. Ich muß an Sigrun denken, daß sie existiert, daß sie es gut mit mir meint, daß ich eine dritte Chance bekommen habe. Was dachte sie, als ich sie anstarrte? Verstand sie, was ich mit dem Blick zum Ausdruck bringen wollte? Begriff sie, warum ich mich gerade jetzt hier im hohen Norden befinde? Erfaßt sie den Ernst? Dann versinke ich in einem Traum. Sigrun hat den weißen Arztkittel an. Ihr Gesichtsausdruck wirkt entschlossen, als sie sich Gummihandschuhe überstreift.
»Wir müssen das abschließen«, sagt sie.
»Was abschließen?« sage ich.
»Deine Vergangenheit. Was geschehen ist, ist geschehen. Schade, daß die Salzlösung nicht funktioniert hat.«
»Was willst du jetzt versuchen?«
»Frag nicht so viel. Ich muß mich konzentrieren, um es auszuführen.«
Sie greift nach einem altmodischen Drillbohrer, der bei den anderen medizinischen Instrumenten liegt. Dann kommt sie zu mir. Da fällt mir auf, daß ich am Stuhl festgebunden bin. Ich kann mich nicht bewegen.
»Hilfe!« rufe ich.
Aber in Sigruns Gesicht ist keine Gnade. »Still«, sagt sie streng. »Du störst die anderen Patienten.« Sie setzt den Bohrer auf meiner Schläfe an. Dann beginnt sie zu drehen.Das schmerzt auf eine seltsame, juckende Art, als befände sich der Schmerz an einer anderen Stelle als der, an der er verspürt wird. Ich denke an die Überraschung in den Augen eines Stiers, wenn der Gnadenstoß kommt, wenn der Speer ganz hineingestoßen wird. Aber es geht nicht darum, mich zu töten. Sigrun hat etwas anderes mit mir vor.
»Ganz ruhig«, sagt sie, während ein Blutstrahl sie mitten ins Gesicht trifft.
»Ihh«, sagt sie verärgert. Aber sie bohrt weiter. Bald ist sie durch die Schädeldecke. Ich habe Angst, daß sie nicht aufhört. Ein Stoß, und sie ist durch.
»Perfekt«, sagt sie befriedigt.
Das Blut spritzt immer noch ins Zimmer, als Sigrun zum Waschbecken geht, den Bohrer ablegt und sich das Blut vom Gesicht wäscht. Mir ist das peinlich. Es ist schließlich mein Blut.
Dann kommt sie mit einer Pinzette zurück.
»Ich werde sie jetzt ein für allemal aus deinem Gehirn entfernen«, sagt sie.
»Wen entfernen?«
»Marianne und Anja natürlich. Sie nehmen da drinnen zuviel Platz ein.«
»Nein!« rufe ich. »Tu das nicht! Ich brauche sie. Ich kann nicht leben ohne sie!«
»Das werden wir schon sehen«, sagt sie hart. Sie preßt einen Wattebausch in das Loch im Kopf. Dann steckt sie die Pinzette hinein. Ich werde fast ohnmächtig vor Schmerz. Aber dann zieht sie etwas heraus, und sofort stellt sich das körperliche Gefühl von Erleichterung ein.
»Schau mal!« sagt sie begeistert. »Hier sind sie, die beiden!«
Voller Schrecken sehe ich, was sie mir vor die Augen hält. Anja und Marianne zappeln an ihrer Pinzette. Siesind winzig klein, wie Gummibärchen. Aber ich kann sie trotzdem genau erkennen. Anja trägt wie beim ersten Mal, als sie mir das Skoog-Haus zeigte, den lila Baumwollpulli und die schwarze Hose. Marianne hat wie gewohnt ein weißes T-Shirt an und Jeans.
»Laß es nicht zu«, ruft Marianne bittend.
»Die große Schwester«, sagt Sigrun lakonisch. »Will immer bestimmen. Hör nicht auf sie.«
Anja sagt nichts. Ich sehe, daß sie noch dünner ist als je zuvor. Sie ist ganz weiß im Gesicht.
»Jetzt müßt ihr weg«, sagt Sigrun entschlossen.
Sie geht mit raschen Schritten zum Waschbecken. Ich kann mich nicht bewegen. Ich sitze auf dem Stuhl und höre, daß sie schreien. Kleine, dünne Schreie. Wie Fledermäuse.
Sigrun dreht das warme Wasser auf.
»Neiiiin!« höre ich sie rufen.
»Das reicht jetzt«, sagt Sigrun ruhig, öffnet die Pinzette und läßt die beiden ins Waschbecken plumpsen. »Wie dumm, sie sind zu groß«, sagt sie. »Verdammt, ich muß sie durch die Löcher im Ausguß drücken.« Sie dreht das Wasser für einen Moment ab und versucht, die beiden mit dem Daumen ins Abflußrohr zu schieben. Ein Seufzer ertönt. Dann sind sie weg. Sie dreht wieder das heiße Wasser auf und läßt es ein paar Minuten laufen.
Dann streift sie die Handschuhe ab und wäscht sorgfältig die Hände und das Gesicht.
Dann kommt sie zu mir und löst die Fesseln.
»Spürst du etwas?« fragt sie. »Ist das nicht eine Erleichterung?«
Sie beugt sich über mich, wie es auch Marianne oft tat. Ich darf
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