Die Frau im Tal
spielen zu dürfen, wirkt. Es gelingt ihr, mich zu überreden. Ich habe fünfzehn Minuten, um zu duschen und in die Klamotten zu kommen. Der Lada steht abfahrbereit draußen auf dem Hof.
Im Auto nach Kirkenes wirkt sie erleichtert. Ich denke daran, was Tanja sagte, daß alle in sie verliebt sind, daß alle ihre Patienten sein wollen.
»Kennst du Tanja Iversen näher?« frage ich.
Sie nickt. »Tanja ist nett«, sagt sie. »Ich kenne sie nicht sehr gut. Warum fragst du?«
»Sie hat mich gefragt, ob ich ihr Klavierlehrer sein will.«
»Das halte ich für eine gute Idee«, sagt Sigrun, nachdem sie eine Weile nachgedacht hat. »Aber da ist etwas anderes, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Ja?«
»Gunnar Høegh.«
»Aha?« sage ich vorsichtig.
»Du bist ihm im Flugzeug begegnet, nicht wahr?«
»Ja.«
»Was hältst du von ihm?«
»Was möchtest du hören? Er war der einzige, der in der Maschine Zigarillos geraucht hat.«
Sie lacht. »Typisch für ihn.«
»Ich habe ihn am selben Abend im Restaurant des Hotels getroffen. Er ist mit W. Gude befreundet, meinem Agenten. Mir gefiel es nicht, gerade da von ihm beobachtetzu werden, denn ich hatte vor, mich zu betrinken. Kennst du ihn?«
Auf diese Frage antwortet sie nicht.
»Er möchte, daß du für die Geschäftsleitung von A/S Sydvaranger ein Konzert gibst. Er hat mich gebeten, dich daran zu erinnern.«
»Hat er das?« sage ich. »Er wollte, daß ich für ein Essen spiele. Ich fühlte mich geehrt.«
»Wie dumm von ihm. Du solltest es trotzdem machen. Er kennt viele Leute. Er kann dir nützlich sein, langfristig gesehen.«
»Woher weißt du das? Bist du seine Sekretärin?«
»Nein«, sagt sie kurz.
Ich muß einen wunden Punkt berührt haben. Das ist mir unangenehm. Ihr ist es auch unangenehm. Den Rest der Strecke nach Kirkenes legen wir schweigend zurück. Wir passieren die Höhe 96. Mich erfaßt eine große Trostlosigkeit.
Wiedersehen mit Kirkenes
Sie setzt mich vor dem Hotel ab. Sie hilft mir mit dem Koffer. Dann verabschieden wir uns voneinander.
»Du bist so jung«, sagt sie. »Und stehst bereits mitten im Leben. Versuche, das zu genießen, trotz all der Trauer. Du hast noch so viele Möglichkeiten.«
»Ich mag keine Abschiede«, sage ich.
»Ich auch nicht«, sagt sie und kneift mich kurz in die Wange, als wolle sie mir sagen, ich solle mich ordentlich benehmen. »Mach jetzt keine Dummheiten. Keine Prügeleien mit kleinen, frechen Jungs. Beim Wechsel vonMitternachtssonne zur Polarnacht geht es hier oben oft heiß her. Aber in vierzehn Tagen bist du wieder in Svanvik. Dann werden wir zusammen Brahms spielen.«
»Jetzt hast du es versprochen.«
»Das habe ich. Dann muß ich wohl üben.«
»Nicht zuviel üben. Das sagte Rubinstein.«
»Rubinstein war ein kluger Mann«, sagt sie und küßt mich rasch auf die Wange.
In dem Augenblick passiert es. Ich fange ihren Blick, zwinge sie, mich anzuschauen. Das wird zu intensiv. Sie möchte den Kopf abwenden. Aber ich halte ihren Blick fest, und auf einmal beantwortet sie ihn.
Was sieht sie jetzt in mir? denke ich. Sieht sie Marianne? Sieht sie Anja. Sieht sie all das, was uns verbindet und weshalb ich hierherkam?
»Wie schön du bist«, sage ich verlegen. Ich fasse sie am Arm. Bin hilflos.
»Nicht!« sagt sie und greift nach meiner Hand.
»Jetzt erinnerst du mich an Anja«, sage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Sie hat Tränen in den Augen.
Dann setzt sie sich in den Lada und fährt weg.
Wieder allein. Ich bin wie benommen, werde rot vor Scham. Was habe ich getan? Sie ist eine verheiratete Frau. Ich bin eben Witwer geworden. Was kann sie verstehen? Ab jetzt bin ich auf Tournee entlang der Eismeerküste, denke ich, stelle den Koffer in der Rezeption ab und gehe geradewegs ins Vinmonopol. Mit drei Plastiktüten voll Alkohol komme ich zurück. Russischer Wodka. Wie es mir Sigrun gezeigt hat. Wodka zum Trost. Die reine Medizin. Ich weiß jetzt, daß er den Organismus in Schwung bringt und mir die Energie gibt, die mir fehlt. Den ersten Schluck genehmige ich mir bereits im nächsten Hauseingang. Er wirktwie eine Explosion. Sofort fühle ich mich wieder nüchtern. Dann checke ich im Hotel ein. Die Frau an der Rezeption fängt zu lachen an, als sie mich sieht. » Dieser junge Herr kommt also wieder?« sagt sie und gibt mir den Schlüssel zum selben Zimmer wie beim letztenmal. Als hätte sie nur auf mich gewartet.
Die Wände stürzen mir entgegen, als ich eintrete. Der Kellerraum im Skoog-Haus, denke
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