Die Frau im Tal
war geschehen, bevor ich begriff, daß es geschehen würde. Ich konnte nicht einmal über Anja trauern, da stand schon ihre Mutter quicklebendig vor mir, begehrenswerter als jede andere. Jetzt bin ich auf der letzen Etappe. Auf der sich alles entscheidet. Noch eine Chance bekomme ich nicht.
War es das, was mir der Traum sagen wollte?Ich gehe hinunter in meine Kabine und nehme einen Schluck aus der Wodkaflasche, bevor ich mich aufs Bett lege. Was denkt sie jetzt von mir? Schämt sie sich für mich? Ist sie wütend? War ich zu aufdringlich? War mein Begehren zu unverhohlen? Bin ich ihr zu nahe getreten? Wenn ich nur schlafen könnte, bis hinunter nach Bergen. Aber ich habe ein Konzert in Båtsfjord. Da liege ich und denke, daß ich immer mehr der einen Karte gleiche, die von einem Kartenspiel liegenblieb, das jemand verloren hat. Eine Karte, die niemand brauchen konnte, weil sich niemand an das Spiel erinnerte und niemand den Wert der verlorenen Karte kannte. Man konnte sie bestenfalls einem Kind schenken, das sie bald zerreißen würde. Oder man konnte sie an die Wand pinnen, zur Erinnerung an eine Zeit, von der niemand etwas weiß. Das ist mein Schicksal, denke ich, daß niemand von der Zeit weiß, die ich mit Anja und Marianne teilte. In der alles heimlich und versteckt war. Nicht einmal Mariannes Mutter wußte, daß wir geheiratet hatten. Ich liege in der Kabine der »Birger Jarl« und weiß, daß ich die Geschichte mit niemandem teilen kann als denen, die bereits tot sind. Die einzige, die Teile der Geschichte verstehen könnte, ist Sigrun. Sie weiß, wie sie redeten. Sie erinnert sich an die Farbe ihrer Augen. Sie wuchs zusammen mit Marianne auf, packte mit ihr Weihnachtsgeschenke aus, ging mit ihr zum Turnen. Die Marianne, die ich liebte, war der Stachel in Sigruns Kindheit, ewig die große Schwester, die alles bestimmte. Während ich, noch keine zwanzig Jahre alt, mich nicht einmal daran erinnere, ob und wie Marianne über mich bestimmte.
Lange liege ich so in Gedanken versunken und von den Wellen hin und her geschaukelt zwischen Wachen und Schlafen. Ich denke an die zwei schrecklichen Träume, andie große Freundlichkeit und an das Vertrauen, das mir Sigrun in der kurzen Zeit, die wir zusammen waren, entgegengebracht hat. Würde ich mich auch für Cathrines Geliebte so einsetzen? Würde ich versuchen, sie zu verstehen, ihr ebenso zu helfen, wie Sigrun mir zu helfen versucht hat?
Eine Woge aus Nordost erfaßt das Schiff. Es neigt sich. Ich bekomme Angst. Das Schiff darf jetzt nicht sinken. Ich möchte nicht sterben. Noch nicht.
Da wird mir klar, daß die Gleichgültigkeit nicht gewonnen hat. Trotzdem öffne ich die Wodkaflasche und trinke weiter. Bald soll ich in Båtsfjord am Flügel sitzen. Im Frühjahr soll ich mit der Osloer Philharmonie Rachmaninow spielen. Vielleicht ist es möglich, denke ich. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.
3. Teil
Wiedersehen mit Sigrun
Vierzehn Tage später läuft an einem stürmischen Oktobertag das Hurtigrutenschiff »Lofoten« frühmorgens in den Fjord von Kirkenes ein. Schnee bedeckt die kahlen, grauen Klippen. Eine kleine Gruppe amerikanischer Touristen steht an Deck und weint beinahe bei dem Gedanken, daß die Reise zu Ende ist, die lange Reise von Bergen bis hierher. Ich war seit Tromsø mit ihnen zusammen. Ich habe mit ihnen geredet und gelacht, habe sogar auf dem ramponierten Klavier im Salon Rachmaninow für sie gespielt. Ja, ich bin jetzt ein Barpianist. Ich bin spätnachts auf der Bühne von Dorfgemeinschaftshäusern gesessen und habe Chopin gespielt, ich habe einen Zahnarzt in seiner Villa mit Panoramafenster zum Meer erfreut, indem ich auf seinem weißlackierten Baldwin-Flügel ein spezielles Intermezzo von Brahms vortrug. Ich habe selbstgemachten Johannisbeerwein getrunken und aus Nepal importierten Tee. Ich habe Erstausgaben von Ibsens »Volksfeind« bewundert und Mozarts Alla-turka-Sonate auf einem altersschwachen Rönisch-Klavier in einem kleinen Bootshaus draußen auf der Nordkinnhalbinsel gespielt. In Havøysund habe ich Beethoven gehört, aus großen ELAC-Lautsprechern in Kirschholz, bei deren Anblick Bror Skoog grün vor Neid geworden wäre. Ich habe ein französisches Pärchen kennengelernt, das in Honningsvåg einen Schoner restaurierte, um damit im nächsten Sommer nach Spitzbergen schippern zu können. Ich habe Trawlerfischer getroffen und Stockfischverkäufer, Trotzkisten, Wahrsagerinnen,Schamanen, Spezialisten für Röhrenverstärker, Besitzer
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