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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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sie eifrig. »Hast du es nicht gemerkt? Es war so offensichtlich. Du warst betrunken. Und hast sie ständig angestarrt. Trotzdem spieltest du so wunderbar aufdem Klavier. Weil du für sie gespielt hast. Weil du glaubtest, nüchtern zu sein.«
    »Der Glaube kann Berge versetzen«, sage ich beklommen.
    »Kann er? Deine Musik war so traurig.«
    »Die meisten Komponisten haben wie gesagt etwas Trauriges an sich.«
    »Kann sein.«
    »Und trotzdem lieben wir sie so.«
    Sie sitzt still da und blickt starr vor sich hin. Nickt, ohne gehört zu haben, was ich sagte.
    »Wenn ich mich jetzt nicht schlafen lege, werde ich verrückt«, sage ich.
    »Dann gehe ich«, sagt sie entschlossen und steht auf.

    Wir bleiben an der geöffneten Tür stehen. Jetzt sind keine Laute hinter den Türen der Zimmer. Als seien wir jetzt die einzigen, die wach sind.
    »Faß mich an«, sagt sie und zieht meine Hand unter ihren Pullover.
    Ich tue, was sie will.
    »Du bist ziemlich angetörnt«, sagt sie. »Das habe ich dir angesehen, als du spieltest. Was hat dich so angetörnt?«
    Ich antworte nicht.
    Sie ist wie ein Vögelchen in meiner Hand.
    Der Traum. Das Erwachen.

    Ich schlafe lange in den Tag hinein. Ich erwache nicht einmal, als sie das Klavier in mein Zimmer bringen. Ich bin in einem Traum. Ich bin im Sprechzimmer der Distriktsärztin. Sigrun sitzt im weißen Kittel vor mir. Sie hat ihr Haar in einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Sie studiert die Ergebnisse der letzten Blutprobe.
    »Ich befürchte, daß dir etwas Ernstes fehlt«, sagt sie.
    »Sag so etwas nicht«, sage ich.
    »Das muß ich«, sagt sie. »Ich bin Ärztin. Ich hätte das schon viel früher feststellen müssen.«
    »Wann früher?«
    »Vor Anja. Vor Marianne. Dann hätten wir dich vielleicht retten können.«
    »Du meinst … du kannst nichts …?«
    »Nein, es ist zu spät. Du bist total auf Sex fixiert. Du siehst überall nackte Frauen. Du vergißt sogar, daß du in Trauer bist. Aber es gibt zum Glück ein Mittel. Wir können Salzlösung anwenden.«
    »Salzlösung?«
    »Ja. Salzlösung ist gut. Salzlösung wirkt in Fällen wie deinem. Ich habe es bereits bei einigen der Jungs in der Schule angewendet.«
    »Aber das ist doch ätzend?«
    »Richtig. Sie ist wie ein Brand. Sie verbrennt die Vergangenheit.«
    »Wie funktioniert das?«
    »Wir wenden es in den Augen an.«
    »In den Augen?«
    »Ja, warte nur, du wirst es gleich sehen.«
    Sie zieht sich Gummihandschuhe an und geht zu einem Regal, wo sie einen roten Behälter holt.
    »Jetzt mußt du genau zuschauen«, sagt sie und mischt in einem großen Bierglas die Lösung. Das Wasser fängt sofort zu sieden und zu kochen an.
    »Ich wollte das doch nicht«, sage ich.
    »Das sagen alle«, sagt sie und blickt mich verächtlich an.
    »Aber damit werden wir dich heilen«, sagt sie.
    »Augen auf. Weit auf, daß man die Pupillen und all das Weiße sieht.«
    Sie zeigt mir, wie ich es machen soll.
    Plötzlich wird mir klar, daß sie mir weh tun will.
    »Ich muß gehen!« sage ich und will aufstehen. Aber die Beine sind gelähmt.
    »Herschauen«, befiehlt sie und schüttet das kochende Wasser direkt in meine Augen.
    Der Schrei weckt mich.
Kehrtwendung
    Sigrun steht an meinem Bett in dem Internatszimmer und lächelt. Das Haar hat sie in einem Knoten im Nacken zusammengebunden.
    »Was hast du geträumt?« sagt sie.
    Ich denke nach, versuche den Traum zu erhaschen, bevor er weg ist.
    »Es ist schwierig, Träume festzuhalten«, sage ich.
    »Besonders, wenn sie wichtig sind. Wenn sie dir etwas erzählen wollen«, sagt sie.
    »Mir träumte, daß du mich erschreckt hast. Daß du mir Angst einjagen wolltest.«
    Sie setzt sich auf die Bettkante.
    »Warum wollte ich dir Angst einjagen?«
    »Das will ich nicht sagen. Du warst über etwas wütend.«
    »Ich bin normalerweise nicht wütend«, sagt sie. »Aber vielleicht bist du wütend, weil ich dein gestriges Konzert kritisiert habe.«
    »Nein, da hattest du völlig recht«, sage ich.
    »Du mußt keine Angst vor mir haben«, sagt sie und drückt vorsichtig meine Hand. »Ich habe übrigens heute nacht auch geträumt. Von Marianne. Es war ein seltsamer Traum.«
    »Was träumtest du?«
    »Daß sie mich zu deinem Debütkonzert eingeladen hat. Daß ich nicht kam. Im Traum hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wenn ich gekommen wäre, hätte sie sich vielleicht nicht das Leben genommen. Als ich erwachte, fiel mir ein, daß der Traum seine Richtigkeit hatte. Marianne lud mich wirklich zu deinem Debütkonzert

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