Die Frau im Tal
ihre Brüste in beide Hände nehmen. Zwischen uns steigt eine große Zärtlichkeit auf.
»Kein anderer kann in diese Welt eindringen«, sagt sie. »Kein anderer würde uns verstehen.«
»Anja und Marianne würden es verstehen«, sage ich.
»Vielleicht. Aber wir brauchen sie nicht mehr. Spürst du nicht, daß die Trauer losgelassen hat? Verstehst du nicht, daß sie froh sind, sie auch? Jetzt können sie endlich in Frieden ruhen.«
Dann setzt sie sich auf mich. Alles ist sehr wirklich. Sie hat Mariannes Körper. Aber sie ist kräftiger und wilder.
»Komm«, sagt sie.
Outward Bound
Ich denke an den Traum, als ich am nächsten Tag auf Deck des Hurtigrutenschiffs »Birger Jarl« stehe und hinüberschaue zur Skogerøya, zu den kahlen Klippen, die abfallen ins Meer, zu den herbstlich gelben Gräsern. Das große Schiff erzittert. Ich höre das Geräusch der Wellen gegen den Schiffsrumpf. Ich möchte den ersten Teil des Traumes abschütteln und den letzten behalten. Ich will sie nicht verlieren, denke ich. Sie schrien so erbärmlich. Das erinnerte mich an ein Gefühl, das ich in letzter Zeit häufig gehabt habe. Daß sie alle beide alles verfolgen, was ich mache. Sie wollen in meinem Gehirn sein. Solange ich mich an sie erinnere, sind sie nicht tot. Sie wissen, was ich jetzt vorhabe. Sie wissen sogar, was ich denke. Mutter und Tochter in enger Gemeinschaft.
Ein schwarzgekleideter Mann taucht neben mir auf. Er stellt sich weit genug weg, so daß ich nicht mit ihm reden muß. Aber er weiß genau, daß er mich mit seiner Anwesenheit stört. Wir starren beide nach Norden. Ich habe keine Handschuhe an und spüre, wie mir der eisige Windin die Knochen fährt. Es ist ein unwirklicher Gedanke, daß ich heute abend ein Konzert geben soll. Daß ich für andere Menschen spielen soll. Etwas Gutes und Schönes vermitteln soll, das sie im besten Fall begeistert und im schlimmsten Fall Wunden aufreißt. Die aschgrauen Linien der Landschaft entsprechen der Stimmung, die sich in mir aufgebaut hat. Es ist, als würde ich im wachen Zustand schlafen, während ich so stehe und zum Nordpol starre. Es gelingt mir nicht, den ersten Teil des Traumes abzuschütteln. Ich denke an die winzigen Körper, die in Sigruns Waschbecken weggespült wurden. Diese Frauen habe ich geliebt, tief und ehrlich. Für sie wollte ich mein Leben hingeben. Inzwischen weiß ich nicht einmal, ob sie erkannten, mit welchem Ernst ich sie anbetete. Vielleicht interessierten sie ganz andere Dinge.
Der schwarzgekleidete Mann wendet sich an mich. Er ist um die sechzig Jahre, hat ein Leben gelebt. Tiefe Falten im Gesicht. Säcke unter den Augen. Spuren des Alkohols. Im Westen klart der Himmel auf. In diesem grellen Licht sieht er bleich aus, fast wie ein Toter.
»Ist alles in Ordnung mit dir, junger Mann?« fragt er plötzlich.
Ich nicke. »Alles in Ordnung, danke. Und selbst?«
Er schaut mich an. Stutzt. Dann lächelt er.
»Auch alles in Ordnung«, sagt er. »Wohin geht die Reise?«
»Nach Båtsfjord«, sage ich.
»Das ist nicht weit.«
»Nein. Aber für mich weit genug. Und wohin müssen Sie?«
»Ich muß zurück nach Bergen«, sagt er plötzlich in eindeutigem Westlanddialekt. »Es ist meine letzte Reise. Ichbekam letzten Dienstag die Diagnose. Krebs. Unheilbar. Da kaufte ich Tickets und flog nach Kirkenes. Die Heimfahrt mache ich mit der Hurtigrute. Ich bin Maler. Mein größter Wunsch ist es, zu sehen . Dort, woher ich komme, transportiert man die Särge auf Schiffen zur Kirche auf dem Festland. Ich möchte auch mit dem Schiff ankommen. Aber ich möchte auch die Küste sehen , die mich geformt hat, die ich mir nicht ausgesucht habe, die dennoch zu meiner Landschaft wurde. Wenn man so lange gelebt hat wie ich, dann hat man vieles zum Nachdenken. Du bist so jung, hast dieses Bedürfnis nicht. Trotzdem war etwas in deinem Blick. Ich wollte dich nicht stören. Möchtest du jetzt deine Ruhe haben?«
Ich zucke die Schultern.
»Du willst deine Ruhe haben«, stellt er fest. »Ich werde den Nachmittag in der Bar verbringen, wenn du jemanden zum Reden brauchst.«
Aber ich werde ihn nicht treffen. Ich werde den Nachmittag nicht in der Bar sitzen und seine sicher interessante Lebensgeschichte anhören. Er bereitet sich auf den Tod vor. Ich versuche, mich auf das Leben vorzubereiten. Ein ganz anderes Leben, als ich dachte. Was brachte mich hierher? Eine einzige Hoffnung? Ein einziger Mensch? Im Moment habe ich das Gefühl, als wäre ich meinen Träumen voraus. Alles
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