Die Frau im Tal
erschreckt mich, daß ich schon so weit gekommen bin, so schnell. Ich überlege, wieviel weiter ich kommen kann,wieviel diese Gefühle aushalten. Was seinerzeit mit Anja begann, war so oft zum Scheitern verurteilt gewesen und brennt doch immer noch wie eine versengende Flamme. Bin ich verrückt? denke ich. Habe ich schlicht und einfach nicht genug Phantasie, den Blick in eine andere Richtung zu lenken, Alternativen zu prüfen? In Gegenwart von Sigrun wird die Vergangenheit sofort wieder lebendig. Ich wälze mich auf dem Gästebett hin und her, weiß, daß ich nicht schlafen kann. Ich sehne mich nach ihr, will nicht akzeptieren, daß sie klare Prämissen hat, als würde ich ihren Gefühlen viel weniger trauen als meinen eigenen. Ich muß ihr noch näher kommen können. Sehr viel näher. Sie hat die Tür einen Spalt geöffnet.
Sie hat mir eine Hoffnung gegeben, die sie mir nicht hätte geben brauchen.
Ich stehe vom Bett auf und gehe in das andere Schlafzimmer. Ihr Schlafzimmer. Mit wie vielen war sie schon in diesem Zimmer? Etwa nur mit Eirik? Sie ist viel kontaktfreudiger, als es Anja und Marianne waren. Sie kennt viel mehr Menschen. Sie liebt das gesellige Nachspiel ebenso wie die Einsamkeit in der Wildmark. Ist Ärztin für alle und allein mit ihrer Violine.
Ich lege mich in ihr Bett. Bohre das Gesicht in das Kissen. Rieche ihr Parfüm. Hier hat sie gelegen. In diesen Laken. Auf dieser Matratze. Ihr Morgenmantel hängt am Haken an der Wand. Eine Jeans und ein zerknüllter Schlüpfer liegen achtlos auf einem Stuhl.
Dann will ich nichts mehr sehen. Ich schließe die Augen. Ich träume den letzten Teil des Traumes wieder und immer wieder.
Intermezzo in der Wohnung der Distriktsärztin
Als mich Sigrun einige Stunden später weckt, stelle ich erschrocken fest, daß ich eingeschlafen sein muß. Daß ich nicht zurück in mein Bett gegangen bin. Sie lächelt, als sie meinen Schreck bemerkt.
»Ich muß das falsche Zimmer erwischt haben«, sage ich entschuldigend.
»Das macht nichts«, sagt sie.
Sie steht im Dufflecoat am Bett. Sie hat einen grünkarierten Schal um den Hals. Schwarze Hose und hohe Stiefel. Sie kleidet sich mit mehr Sorgfalt als Marianne. Außerdem legt sie mehr Wert auf Make-up.
Ich bin nackt unter der Decke. Die Kleider liegen als Bündel am Fußende. Sie läßt sich nichts anmerken.
»Du willst sicher duschen«, sagt sie auf ihre bestimmende Art. »Hast du deinen Anzug im Koffer?«
»Ja«, sage ich.
»Dieser Abend ist eine Festveranstaltung für die hier lebenden Politiker und Unternehmer. Es kommen alle, vom Reeder der Hurtigrute bis zum reichen Rentierzüchter. Der Gouverneur von Spitzbergen wird auch anwesend sein. Du bist der einzige Künstler. Für dich sind dreißig Minuten gleich nach dem Essen vorgesehen.«
»Was wäre passiert, wenn der Künstler nein gesagt hätte?«
»Dann wäre der Programmpunkt weggefallen. Gunnar macht das, weil du dich gerade hier aufhältst und weil er eine aufrichtige Bewunderung für Musiker hegt, die so erfolgreich sind wie du.«
»Was, meinst du, soll ich spielen?« frage ich.
Sie setzt sich auf die Bettkante, beugt sich vor und legt einen Finger unter mein Kinn.
»Du wirst sicher die richtige Musik aussuchen«, sagt sie mit einem Lächeln.
Dann steht sie wieder auf.
Flirtet sie bewußt mit mir? denke ich verwirrt. Möchte sie die Spannung zwischen uns erhalten, trotz ihrer gegenteiligen Aussage? Spielt sie mit mir? Sind ihr die widersprüchlichen Signale, die sie aussendet, nicht bewußt? Mir fällt ein, was Tanja Iversen sagte, daß alle in Sigrun verliebt sind. Sogar im weit entfernten Oslo hatte Rebecca das Gerücht von der Distriktsärztin in Pasvik gehört. So, wie sie jetzt im Zimmer steht und sagt, sie wolle ins Wohnzimmer gehen und Zeitung lesen, während ich mich fertigmache, verstehe ich es.
»Mußt du dich nicht auch feinmachen?« frage ich.
»Ja, nach dir«, sagt sie.
In der Dusche empfinde ich eine große Traurigkeit. Sie wirkte so fremd auf mich.
Ich verbrenne mir fast die Haut mit dem heißen Wasser. Danach trockne ich mich sorgfältig mit einem gebrauchten Handtuch ab und ziehe den Anzug an, werfe einen Blick auf die Frisur, überlege, ob ich das After-shave nehmen soll, das da steht, lasse es aber bleiben.
Als ich herauskomme, sieht sie mich anerkennend an.
»Keine neuen Eierflecken auf dem Revers«, lächelt sie.
Ich erröte. »Ich lerne wohl allmählich, wie man sich benimmt«, sage ich entschuldigend.
Sie braucht nicht
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