Die Frau im Tal
von Hasch-Plantagen, Konstrukteure von Holzbooten und Klavierstimmer. Solchen Menschen wäre ich niemals im provinziellen Oslo begegnet. Intensive, unverbildete Menschen in gewaltigen Landschaften.
Und ich war die ganze Zeit betrunken.
Niemand hat etwas gemerkt. Oder sie ließen sich nichts anmerken. Sogar, als ich in Mehamn Chopins g-Moll-Ballade verpatzte, kam mir aus dem Saal nur rückhaltlose Begeisterung entgegen. Der Rausch war ein Geschenk, eine Freude. Ich dachte an Mutter und ihre Rotweinflaschen. Der Alkohol brachte ihre Gefühle nach außen. Ja, dort gehören sie hin, denke ich, während ich an Deck stehe und erwartungsvoll bin wie ein kleiner Junge bei der Vorstellung, sie bald wiederzusehen. Ich sehne mich nach dem Ende des Traums. Ich sehne mich nach Zärtlichkeit und Befreiung. So möchte ich Rachmaninow spielen, denke ich, erfüllt von all den Menschen, die ich unterwegs getroffen habe. Mir ist aufgefallen, daß die meisten an dieser Eismeerküste ein gutes Verhältnis zu den Russen haben. Ich traf Menschen, die sich im Winter 1945 beim Rückzug der Deutschen vor der Roten Armee, bei dem sie ein Gebiet so groß wie Dänemark in Brand steckten, in Höhlen verstekken mußten. Sie erzählten mir schreckliche Geschichten, als 60 000 Menschen zwangsevakuiert wurden. Die meisten waren damals noch Kinder, aber die Erinnerung war geblieben. Nicht verwunderlich, daß sie zu den Russen ein gutes Verhältnis haben, denke ich und sehe von meinem Platz ganz vorne an Deck unten am Kai eine Gestalt, die wie Sigrun aussieht. Wartet sie wirklich auf mich? Holt sie mich ab? Ich winke vorsichtig. Sie winkt zurück. Ich gehe mit meinem großen Koffer die Landungsbrückehinunter. Sie lächelt mir entgegen, steht da in hohen Stiefeln und einem grünen Dufflecoat. Es ist Oktober, und es riecht nach Schnee. Ich bin gerührt von ihrem Anblick. Daß sie sich tatsächlich Zeit genommen hat, um mich abzuholen. Wir fallen uns um den Hals.
»Wie geht es deiner Wunde«, sagt sie.
»Die ist weg«, sage ich.
»War die Reise schön?«
»Du hast mir gefehlt«, sage ich.
Sie sagt nichts.
»Ich verstehe nicht, was bei meiner Abreise in mich gefahren war«, fahre ich fort und versuche, das Zittern meiner Stimme zu beherrschen.
»Kein Wort mehr«, sagt sie und legt mir einen Finger auf den Mund.
Sie möchte etwas sagen, wird aber unterbrochen. Jemand grüßt sie. Man kennt sie hier. Sigrun grüßt zurück.
»So ist das, wenn man Distriktsärztin ist«, sagt sie entschuldigend.
»Mir gefällt das«, sage ich. »Alle brauchen dich.«
Sie lacht und drückt meine Hand. »Quatschkopf!« Wir gehen zum Auto. Sie hilft mir mit dem Gepäck. »Aber gut, dann kann ich meine Autorität einsetzen und dich fragen, ob du dir vorstellen kannst, in Kirkenes zu übernachten? Mich hat nämlich Gunnar Høegh angerufen. Er hat prominenten Besuch. Großes Essen bei A/S Sydvaranger. Er hat versucht, dich zu erreichen. Kannst du spielen?«
»Natürlich spiele ich, wenn du da bist.«
»Gewiß bin ich da.«
»Und wo ist Eirik?«
»Mit einigen Schülern des Internats in einem Lappenzelt unterwegs.«
»Lange?«
»Das ganze Wochenende.«
»Ich weiß nicht einmal, welcher Tag heute ist«, sage ich.
»Freitag«, sagt sie.
»Dann nehme ich mir wohl ein Zimmer im Hotel?«
»Nein, du schläfst natürlich in meiner Wohnung. Aber stelle dich darauf ein, daß es spät wird. Ich habe zu einem Nachspiel eingeladen.«
Demnach geht sie davon aus, daß ich ja sage, denke ich.
»Ich muß eigentlich arbeiten«, sagt sie nervös. »Ich weiß, wie müde man ist nach einer Schiffsreise. Du kannst dich ein paar Stunden ausruhen. Sobald mein Dienst beendet ist, komme ich und hole dich.«
Sie gibt mir einen Schlüssel.
»Du findest den Weg.«
Wir sind vor der Eisenwarenhandlung stehengeblieben. Ich fasse sie um den Hals und ziehe sie an mich.
Sie reißt sich los.
»Ich will das nicht«, sagt sie mit bebender Stimme.
»Ich kann auch im Hotel schlafen.«
»Nicht nötig, die Wohnung hat ja ein Gästezimmer. Wenn du wüßtest, wie viele Leute im Laufe eines Jahres dort übernachten.«
Sie nimmt meine Hand.
»Begreifst du denn nicht, daß Eirik mir vertraut ?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich lasse sie reden.
»Ich habe an dich gedacht«, sagt sie. »Mehr als ich sollte. Sind daran Anja und Marianne schuld? Spuken sie jetzt für uns?«
»Ich hatte einen verrückten Traum«, sage ich. »Mir träumte, daß du die beiden mit einer Pinzette aus
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