Die Frau im Tal
Teufel bist du hier.«
In dem Moment fällt ihr Blick auf Sigrun Liljerot. Sie hat neben Gunnar Høegh Aufstellung genommen und fungiert als die Gastgeberin. Ich begreife gar nichts. Wagt sie das wirklich nach all dem, was sie mir über ihre Beziehung zu Eirik erzählt hat? Es klingt mir noch im Ohr: Ich möchte, daß du mein Freund bist. Mein bester Freund … Ja, denke ich, das ist eine tolle Formulierung. Freunde können so vieles verheimlichen. Haben nicht auch Rebecca und ich verheimlicht, was wir vorigen Sommer im Ferienhaus an der Südküste trieben? Hat Christian das nicht deshalb akzeptiert, weil wir Freunde waren? Er war zu der Zeit selbst bei Freunden in Frankreich. Jetzt stehen Sigrun Liljerot und Gunnar Høegh wie Freunde nebeneinander undbegrüßen die prominenten Gäste. Niemand wird dahinter ein heimliches Verhältnis vermuten, denn Sigrun Liljerot ist verheiratet mit dem allseits geachteten Eirik Kjosen, der bedauerlicherweise heute nicht kommen konnte, so höre ich sie antworten, wenn jemand fragt, weil er mit Schülern der Internatsschule von Svanvik im Lappenzelt unterwegs ist.
In Rebeccas Gesicht sind jetzt noch mehr Fragezeichen, als sie mit dem Strom weiterzieht, weg von mir zu der langen Tafel mit den Tischkärtchen, wo man einige Stunden sitzen wird, wo Reden gehalten werden, wo anschließend Musik dargeboten wird.
Das Skandalkonzert
Es ist vorgesehen, daß ich in der Küche essen soll, wie üblicherweise die Musiker. Kurz bevor sich alle setzen, kommt Gunnar Høegh zu mir und sagt:
»Du möchtest sicher das Essen und den Wein, nachdem du gespielt hast?«
»Nein, jetzt«, sage ich.
Sigrun taucht neben ihm auf. Sie hat gehört, was gesagt wurde. Obwohl sie die ärztliche Vernunft vertritt, ist sie auf meiner Seite.
»Natürlich wird Aksel am Festessen teilnehmen!« sagt sie. »Besteht darin nicht sein Honorar?«
Sie wirft Gunnar Høegh einen spöttischen Blick zu, dem die Situation deutlich unangenehm ist.
»Ich werde sehen, ob ich noch einen Platz an der Tafel finde«, murmelt er.Mein Platz ist an einem der Tische ganz hinten im Saal, zwischen einem Rentierzüchter und dem Stadtkämmerer von Tana. Das paßt mir gut. Von hier aus habe ich sowohl Sigrun und Gunnar Høegh am vordersten Tisch wie auch die gesamte Familie Langballe/Frost am nächsten Tisch bestens im Blick. Meine beiden Tischnachbarn erweisen sich als wenig gesprächige Nordmänner, die kein Wort zuviel reden. Ich esse Eismeerkrabben und Lachstatar, Rentierfilet und Multekompott. Ich koste von den Weinen, viele kleine Schlucke, bei denen die Gedanken davonfliegen und nicht mehr wiederkehren. Gedanke um Gedanke. Ein wunderbarer, zu nichts verpflichtender Zustand, bei dem ich das Gefühl habe, in einer Strömung zu treiben. Ja, ich treibe auf etwas Großes und Unbekanntes zu, denke ich. Ich habe alle Möglichkeiten. Ich merke, daß mir sowohl Rebecca wie auch Sigrun kurze, prüfende Blicke zuwerfen. Ich sehe auch, mit welcher Aufmerksamkeit Rebecca alles verfolgt, was Sigrun tut, als würde sie die Distriktsärztin mit den Augen röntgen. Schöne, zornige, bestimmende und unsichere Rebecca, denke ich. Seit Anja mußte sie sich mit meinen Gefühlen zu Frauen einer speziellen Familie herumschlagen. Es ist, als würde Sigrun ihren Blick spüren, denn sie dreht sich mit einer plötzlichen Bewegung in ihre Richtung, als habe sie eine Eingebung, als verstünde sie, daß diese junge Frau, Rebecca Frost, vielleicht eine besondere Beziehung zu mir hat.
Sie wendet den Blick zu mir. Ich lächle sie an.
Sie lächelt zurück.
Dann bin ich an der Reihe. Jetzt muß Gunnar Høegh aufs Podium und um Aufmerksamkeit bitten. Es wurden bereits viele Reden gehalten, Reden, die fremd klangen in meinen Ohren, weil ich keine Ahnung habe, was diesesgroße Tier namens A/S Sydvaranger eigentlich ist. Aber die Worte haben im Saal Widerhall gefunden. Man hat genickt, geprostet und gelacht. Jetzt ist die Luft raus. Jetzt sind alle satt, zuviel gegessen und getrunken. Jetzt riecht es nach Schweiß, Alkohol und menschlichen Abgasen. Und so steht Gunnar Høegh jetzt neben dem ziemlich bescheidenen Flügel, auf den er so stolz ist, und präsentiert mich mit großen Worten dem Publikum. Ich bin das neue Klavierphantom, er bezeichnet mich tatsächlich als Phantom . Ich denke dabei an eine Figur im roten Trikot, die durch die Luft fliegt und übermenschliche Aufgaben löst. Und in diesem Augenblick, mit Sigrun Liljerot und Rebecca Frost im Saal, erscheint
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