Die Frau im Tal
Ehre.«
»Wußten Sie, daß wir beide an einem Fluß aufgewachsen sind?« sagt er höflich. Ich merke, daß die Sprache kein Problem ist. Russisch ist dem Norwegischen viel näher, als ich glaubte.
»Zwischen dem Oneg und der Lysaker ist ein Unterschied.«
»Aber Wasser ist Wasser. Und wenn Wasser in einemFlußbett fließt, wird es zum Strom. Das wollte ich Ihnen mitteilen. Daß Sie sich für mein zweites Klavierkonzert entschieden, muß mit Ihrer besonderen Beziehung zu fließendem Wasser zu tun haben. Haben Sie nicht auch versucht, sich im Wasser das Leben zu nehmen?«
»Doch, das habe ich. Es war mir ernst damit. Weil ich an einem Scheideweg stand. Weil ich nicht wußte, welchen Weg ich einschlagen sollte.«
»Was ist passiert?«
»Dasselbe, was Ihnen passiert ist. Zuviel Gegenwind bekommen.«
»Aber Ihre Probleme waren doch wohl eher menschlicher Art? Bei meinen Schwierigkeiten ging es um das Musikalische. Man hat meine Musik angegriffen. In den Ohren der Rezensenten hatte sie kein Gewicht. Das erste Klavierkonzert wurde ebenso verrissen wie die erste Sinfonie. Sie verrissen alles, woran ich geglaubt und wofür ich gekämpft hatte. Die Reise nach London war … katastrophal. Als Salonpianist wurde ich bezeichnet. Das blieb bis ans Ende meines Lebens an mir haften. Man hatte erwartet, Strawinsky zu hören. Statt dessen servierte ich ihnen eine Reihe von Melodien sozusagen auf dem Tablett.«
»Aber oft sind bei Ihnen die Melodien zwischen all dem Facettenreichtum kaum mehr zu hören.«
»Nun, das ist ja das Geheimnis! Das Klavier verträgt keine so einfachen Melodien in großem Format. Ich hätte natürlich weiterhin kleine Präludien schreiben können, aber das ist auf die Dauer unbefriedigend. Als würde man sein Leben lang nichts anderes tun als Wiesenblumen pflücken. Man sehnt sich nach mehr Herausforderung, oder nicht?«
»Doch ja. Aber was geschah? Was wollten Sie mir eigentlich erzählen?«
»Ach ja, der Scheideweg!« Rachmaninow zieht ein Etui mit Zigarillos aus der Tasche und bietet mir eines an. Ich nehme an und denke, daß es nur wenige gibt, die mit Rachmaninow Zigarillos geraucht haben. Er fährt fort:
»Ich hatte mich für einen Weg entschieden. Aber sie meinten, dieser Weg sei verkehrt. Und von allen Seiten wurde mir mein Selbstvertrauen genommen. Nach dem ungeschickten Selbstmordversuch ließ ich mich von dem Psychiater Nikolai Dahl behandeln. Das Wichtigste, was ich von ihm lernte, war, daß man sich selbst lieben muß, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, um etwas leisten zu können.«
»Sind Sie deshalb heute hierhergekommen?«
»Ja, mein Freund. Sie lieben sich nicht. Sie lieben nicht die Wahl, die Sie getroffen haben. Sie wissen außerdem, daß Sie jetzt schlechter spielen als vor einem halben Jahr, und das ist eine schreckliche Erfahrung.«
»Und meine persönlichen Probleme interessieren Sie nicht?«
»Natürlich tun sie das! Haben Sie vergessen, daß Sie im Frühling mit der Philharmonie in Oslo mein Klavierkonzert spielen wollen? Begreifen Sie nicht, daß Sie meinem Ruf schaden, wenn Sie schlecht spielen? Ich will nicht schon wieder Zielscheibe der Kritik sein.«
»Sie meinen also, ich sollte die Entscheidungen, die ich getroffen habe, noch mal überdenken?«
»Nicht unbedingt. Aber Sie müssen zumindest die Konsequenzen daraus ziehen. Wollen Sie Barpianist werden oder die begonnene Karriere fortsetzen? Die Frage ist ohne Wertung gemeint. Es gibt viele gute Gründe, Barpianist zu werden. Ich fühlte mich selber über einen längeren Zeitraum wie ein solcher. Es gibt viele Barpianisten, die weitaus tüchtigere Interpreten sind als wir.«
»Aber warum haben Sie diese ungeheuren technischen Schwierigkeiten in Ihre Musik eingebaut?«
»So schwierig, wie Sie vielleicht glauben, ist das gar nicht. Haben Sie mich nicht spielen gehört? Haben Sie nicht gehört, wie federleicht und spielerisch die Musik fließt?«
»Doch, ich habe einige alte Aufnahmen gehört«, gebe ich zu. »Sie spielen schnell, und Sie setzen wenig Kraft ein, als wagten Sie es nicht, Ihren Ausdruck ernst zu nehmen. Ihre Musik heute in der Weise zu spielen, das geht nicht.«
»Das geht nicht?« sagt Rachmaninow mit einem säuerlichen Lächeln. »Natürlich geht das. Wenn ich nun mal die Musik so geschrieben und gemeint habe.«
»Sie irren sich! Tut mir leid, das sagen zu müssen. Man wird sich von Ihrer Auffassung freimachen müssen! Sie werden merken, daß Ihre Musik mit viel mehr Gefühl zu spielen
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