Die Frau im Tal
Haar und erstem Bart.
Ich unterhalte mich mit den anderen am Tisch. Ich wirke sicher etwas exotisch auf sie. Obwohl ich nicht aus dem Rock-’n’-Roll-Milieu komme, gibt es vieles, worüber wir reden können. Ich komme aus Oslo. Sie glauben, ich wüßte über alles Bescheid, was in der Welt geschieht. Sie fragen mich, ob ich den Woodstock-Film gesehen habe. »Den habe ich natürlich gesehen«, erwidere ich. Wieder Marianne. Als ich die Schüler am Tisch auf Nick Drake und Joni Mitchell hinweise, rede ich wie Marianne. Tanja Iversen spitzt die Ohren und schaut mich an.
»Joni Mitchell? Die, von der ›Both Sides Now‹ ist?«
Ich nicke.
»Tolle Melodie«, sagt sie. »Noch tollerer Text. Obwohl ich bislang nicht auf beiden Seiten gewesen bin.«
»Wo bist du gewesen?« frage ich vorsichtig.
Sie antwortet nicht.Ich sehne mich nach meinem Zimmer und entschuldige mich damit, noch arbeiten zu müssen. Die andern treffen sich im Aufenthaltsraum. Sonntagabend in der Internatsschule von Svanvik. Einige sind am Wochenende zu Hause bei der Familie gewesen. Andere wie Tanja sind in der Schule geblieben, haben auf dem Bett gelegen und geraucht, Platten gehört oder gelesen. Jetzt wird zusammen gesungen, gequatscht und Gedichte gelesen. Tanja Iversen schaut mich fragend an.
»Wir sehen uns morgen«, sage ich.
Klavierstunde in der Klosterzelle
Sie kommt am Nachmittag, da habe ich den ersten Teil meines täglichen Pensums hinter mir. Die Schüler waren in ihren Unterrichtsräumen. Ich konnte ungestört üben. Aber der Anfang war bleischwer. Als ich mich nach vielen Monaten Pause an den Etüden von Chopin versuchte, betrachtete ich meine Finger und stellte fest, daß sie sich in kleine, eklige und kraftlose Fleischpolster verwandelt hatten, wie Selma Lynge sie einmal nannte. Unvorstellbar, in einigen Monaten mit der Philharmonie Rachmaninow zu spielen. Das braune Klavier ist bei weitem nicht so ausdrucksstark wie Anjas Steinway. Also muß ich mehr üben, härter und ausdauernder, um dieselben Ergebnisse zu erzielen. Sieben Stunden täglich, mindestens. Ich habe keine Wahl.
Tanja klopft kurz und tritt ein, bevor ich öffnen kann. Dann schließt sie die Tür hinter sich. Sie hat rote Wangen, ist frisch und lebendig wie ein Wiesel.
»Wo bist du gewesen?«
»Ski laufen.«
»Mit Eirik?«
»Ja, mit einer kleinen Gruppe sind wir weit hinein in die Wälder gelaufen. Du hättest dabeisein sollen! Die frische Luft macht dich am Ende high. Fast wie ein Joint. Oder ein besonders befriedigender …«
»Ich war so müde, daß ich nicht einmal zum Frühstück kam.«
»Selbst schuld«, sagt sie.
Sie steht dicht vor mir. Ich spüre ihren frischen Atem.
»Sollen wir …?« fragt sie leise mit einem Blick auf das Bett.
Ich drücke sie an mich. Ihr Körper erinnert mich an Anja, bevor sie krank wurde. Die Größe, die straffen Muskeln.
»Ich bin frisch geduscht«, sagt sie, als ich nicht antworte. »Merkst du nicht, wie gut ich rieche?«
»Wir können nicht an diesem Ende anfangen«, sage ich entschlossen. »Außerdem dachte ich, du meinst es ernst.«
»Vögeln ist ernst«, sagt sie, ohne zu zögern.
Ich nicke. »Aber wir müssen uns entscheiden.«
»Ja«, sagt sie mit einem Lächeln. »Zuerst lernen? Danach miteinander schlafen?«
Ich lache und schüttele den Kopf. Da wird sie böse.
»Es ist Sigrun, stimmt’s? Du betest sie an, diese Frau? Und sie willst du haben?«
»Rede bitte nicht von ihr. Nicht so! Ich kann dir das später einmal erklären.«
»Dann bring mir das Klavierspielen bei«, sagt sie verdrossen und setzt sich an das Instrument.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was ich tun soll. Sie ist genau wie ich voller Sehnsucht. Das rührt mich. Ich betrachte sie, wie sie dasitzt. Sie ähnelt mehr und mehr Anja. Sigrun wird Marianne immer ähnlicher. Sind dasZerrbilder meines Gehirns? Aber dann weiß ich, daß es nicht so ist. Sigrun sieht ja wirklich ihrer Schwester ähnlich. Sigrun beruhigt. Tanja erzeugt Unruhe.
»Stimmt etwas nicht?« sagt Tanja ängstlich und den Tränen nahe.
»Alles in Ordnung«, versichere ich. »Entschuldige, ich war in Gedanken. Du erinnerst mich so sehr an jemanden.«
»Du schleppst wohl jede Menge schreckliche Vergangenheit mit dir herum«, sagt sie abweisend.
»Ich habe jemanden verloren.«
»Erinnere ich dich an jemanden, der tot ist?« Sie schaut mich neugierig an.
»Ja. Aber es handelt sich nicht nur um das Aussehen. Es handelt sich um die Situation, in der wir gerade
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