Die Frau im Tal
kaum jemand auf dieser Erde die Voraussetzungen mitbringt. Nicht einmal Beethoven dürfte erwartet haben, daß der einfache arbeitende Mensch, der genug damit zu tun hat, sein Haus zu bauen und den Acker zu pflügen, ihm in die Welt der Fuge folgen könnte, wenn er abends nach Hause kommt. Dann lieber »Hochzeitstag auf Troldhaugen«, das auf seine Weise ebenso ernst gemeint ist.
»Darüber müssen wir noch weiterreden«, sagt der Gouverneur.
»Wir können die Veranstaltung bei mir ausklingen lassen«, sagt Sigrun.
»Sigruns Absacker sind ein Kulturprojekt für sich«, sagtGunnar Høegh. »Wie viele unvergeßliche Musikerlebnisse habe ich in diesen Stunden nach Mitternacht bei dir gehabt«, sagt er und legt den Arm um ihre Schultern.
Aber bevor der harte Kern aufbricht, spüre ich, wie jemand von hinten kommt. Und dann ein wütender Schlag in meinen Rücken. Ich drehe mich um. Es ist natürlich Christian Langballe. Er ist jetzt betrunken. Genauso betrunken wie auf der Hochzeit. Rebecca sehe ich nirgends. Ihre Eltern auch nicht.
»Wo ist Rebecca?« frage ich.
»Wir sind dabei, aufzubrechen«, sagt Christian. »Sie sind auf der Toilette. Ich möchte nur das eine wissen. Warum verfolgst du ständig Rebecca und mich?«
»Ich? Euch verfolgen?« sage ich.
»Rede nicht mit ihm«, sagt Sigrun warnend. »Er ist gefährlich.«
Der Gouverneur und Gunnar Høegh haben die Situation erfaßt.
»Warum bist du hierhergekommen? Das ist unsere Reise, und wir haben uns ein halbes Jahr darauf gefreut!« lallt Christian Langballe.
»Ich werde morgen ganz sicher nicht bei euch auf dem Schiff sein«, sage ich indigniert.
»Spielt keine Rolle. Für Rebecca und mich ist die Reise sowieso verdorben.«
»Rede nicht mit ihm«, wiederholt Sigrun. Christian Langballe wendet sich wütend zu ihr.
»Wer bist du? Stalin?« schreit er.
Gunnar Høegh winkt zwei Kellnern, die offensichtlich zu mehr fähig sind, als nur das Essen zu servieren.
»Behandelt ihn mit Respekt«, sagt er leise. »Er ist der Schwiegersohn von einem unserer größten Reeder.«
Aber Christian Langballe ist nur an mir interessiert.
»Du zerstörst unsere Ehe, ist dir das klar?«
»Wie kommst du denn darauf?« sage ich aufgebracht. »Ich sehe euch doch nie!«
»Aber wir wohnen in deiner verfluchten Wohnung! Und Rebecca besteht darauf. Du bist überall! Dein Flügel. Die verdammten Möbel. Und jetzt bist du hier. Du kotzt mich so an, du verweichlichter Flügelwichser!«
Er ist kurz davor, zuzuschlagen, aber die Kellner halten ihn fest. Er fängt jetzt fast an zu heulen. Sie schleppen ihn aus dem Saal, als Rebecca angelaufen kommt. Das habe ich schon einmal erlebt. Aber jetzt bin ich es, der wütend ist.
»Seine Frau zu verprügeln«, rufe ich ihm nach, »ist wahrlich das Letzte!«
Ich sehe an Rebeccas Augen, daß ich das nicht hätte sagen sollen, daß die Worte alles nur noch schlimmer machen.
Sie kommt zu mir, ihr Blick könnte mich töten.
»Das war nicht nötig, Aksel«, sagt sie wütend.
Dann packt sie mich an den Haaren, versetzt mir eine Ohrfeige und folgt ihrer Familie, die beim Hinausgehen versucht, den Vorfall zu bagatellisieren. Fabian Frost verabschiedet sich jedenfalls jovial von Gunnar Høegh:
»Die heutige Jugend«, sagt er entschuldigend.
»Natürlich«, sagt Gunnar Høegh mit einer unbestimmten Handbewegung.
Alles ist fast wie vorher.
»Wer war sie?« sagt Sigrun und schaut mich direkt an.
Absacker in der Wohnung der Distriktsärztin
Die Gesellschaft löst sich auf. Eine von Gunnar Høeghs Karossen steht vor dem Eingang, um den harten Kern zu Sigrun zu chauffieren. Es stellt sich heraus, daß nur noch Sigrun, Gunnar Høegh und ich übriggeblieben sind. Es schneit jetzt. Große Flocken. Unten liegt schwarz der Fjord. Es bläst von Nordwest. Die Stimmung zwischen Sigrun und Gunnar Høegh ist angeregt. Auch Sigrun wirkt froh, daß das Fest ein Erfolg war. Sie versuchen, mich ins Gespräch zu ziehen, behandeln mich wie ihr kleines Maskottchen, den netten Pianisten, der zu allem zu gebrauchen ist. In einer Plastiktüte liegen einige erlesene Flaschen vom Fest. Wir sitzen auf der Rückbank, alle drei, Sigrun in der Mitte.
»Du kannst gerne vorne sitzen, Aksel«, sagt Gunnar Høegh.
»Danke, es geht schon«, sage ich.
»Hast du heute abend frei?« sage ich mit einem Blick auf Sigrun.
»Wenn man Arzt ist, kann man nie wissen. Plötzlich passiert etwas Unerwartetes. Aber auch Menschen wie ich dürfen manchmal feiern.«
»Alles ist etwas
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