Die Frau im Tal
ist, mit viel mehr Pathos.«
»Da ist kein Platz für mehr Gefühle und schon gar nicht für mehr Pathos. Das ist es ja gerade, was man mir vorgeworfen hat!«
»Ja, das kann man als ungerecht empfinden«, sage ich aufrichtig. »Aber gleichzeitig ist es doch auch ein bißchen schön, nicht wahr? Daß die Nachwelt Ihre Musik anerkennt und dabei Ihre schlimmsten Kritiker niederwalzt, eben weil die heutigen Musiker genau das betonen, was die Kritiker seinerzeit ablehnten?«
»Man hat mich kritisiert, nicht schöpferisch genug zu sein«, sagt Rachmaninow verbittert.
»Weil alle Kritiker Neuland finden möchten, wo sie die Landvermesser sein können«, sage ich. »Das ist verständlich. Wir alle wollen unsere Spuren hinterlassen.«
»Jetzt hinterlasse ich Spuren mit einer Musik, die trotzdem nicht meine ist.«
»Sie werden es überleben.«
»Meine Musik muß man spielen, als wäre sie ein Traum«, sagt Rachmaninow ernst.
»Dies ist ein Traum«, sage ich und erwache.
Zurück nach Skogfoss
Es gibt viele Entscheidungen, die aufgeschoben werden können, denke ich, als ich aufstehe. Und ich bin willens, sie aufzuschieben. Sigrun und Eirik sind bereits in der Küche und frühstücken. Ich schleiche mich ins Bad und bleibe fast eine halbe Stunde unter der Dusche, bis das heiße Wasser aufgebraucht ist. Ich habe immer ein besonders flaues Gefühl, wenn ich in einem Traum mit berühmten Menschen gesprochen hatte.
Sigrun und Eirik sitzen eng beieinander. Sie sehen aus, als hätten sie eben ein vertrauliches Gespräch geführt. Sie können nicht lange geschlafen haben. Sigrun sieht übernächtigt aus, und schließlich hat sie in der Nacht nicht nur Wasser getrunken.
»Da bist du ja, mein Junge«, sagt sie auf diese mütterliche Art, die mich äußerst irritiert und die besonders jetzt, im Beisein von Eirik Kjosen, auffällig ist. »Hast du gut geschlafen? Das war gestern ein anstrengender Tag für dich.«
»Für euch muß es schlimmer gewesen sein«, sage ich aufrichtig. »Wo ist denn Gunnar Høegh geblieben?«
»Er ist um fünf Uhr früh nach Hause gegangen«, lacht Eirik Kjosen. »Er wollte erst alle Probleme der norwegischen Fischereigrenzen klären.«
»Wo wohnt er?«
»In der Direktorenwohnung.«
»Und warum lädt er nicht zum Absacker zu sich ein?« frage ich.
»Er hat sich in diese kleine Wohnung verliebt. Sie erinnere ihn an seine Studentenzeit, sagt er. Außerdem sind hier alle LPs von Sigrun.«
Sigrun nickt und läßt Eirik reden.
Er soll nicht für sie das Wort führen, denke ich. Aber sie läßt es zu. Ich betrachte sie unauffällig, wenn sie es nicht merkt. Sie wirkt irgendwie zerstreut, ist anders als gestern. Sie ist nicht mehr Mittelpunkt. Als habe sie sich einen Schritt zurückgezogen und wolle unsichtbar sein. Sie hält Eiriks Hand, als seien sie frisch verliebt. Er schmückt sich mit ihr. Er ist wie ein Sonnenstrahl. Er ist topfit, läßt sich eine Nacht fast ohne Schlaf nicht anmerken. Er ist stark und schnell, auch mit den Gedanken.
»Jetzt kommst du zurück zu uns«, stellt er befriedigt fest.
»Zurück in den Alltag«, sage ich.
»Hier oben gibt es keinen Alltag«, sagt Sigrun schnell.
Einige Stunden später fahren wir mit dem Lada hinauf nach Pasvik. Alles ist verschneit. Die Landschaft wirkt noch unwirklicher als in dem Traum heute nacht. Eirik sitzt am Steuer. Er fährt rasanter als Sigrun. Bei Melkefoss kommen wir ins Schleudern. Der Wagen schlingert von einer Straßenseite zur andern. Sigrun schreit.
»Keine Angst«, sagt Eirik ruhig und fängt den Wagen wieder.
Er fährt so schnell weiter wie vorher.
Gunnar Høegh geht mir nicht aus dem Kopf. Ich kann ihn nicht einordnen und frage nach ihm. Eirik antwortet. Ererzählt von dem Hausfreund, dem Direktor, dem Sigrun als Ärztin einmal sehr helfen konnte. Seine Dankbarkeit, als das Zellgift wirkte. Die Einladungen zu Banketts und Festlichkeiten. Eirik war natürlich auch eingeladen.
»Er hatte einen Narren an mir gefressen«, sagt Eirik stolz. »Er hatte wenig Ahnung vom Leben in der Wildnis der Finnmark. Aber es dauerte nur ein paar Wochen, und er war ein ausgezeichneter Jäger.«
»Eirik und Gunnar sind wie eine eigene Jagdgesellschaft«, sagt Sigrun mit einem zweideutigen Lächeln. »Wie die meisten Männer sind sie sehr kindisch. Wetteifern darum, wer die meisten Rebhühner erlegt hat und all so was. Wer liegt denn gerade in Führung, Eirik?«
»Gunnar«, lacht Eirik. »Er hat mehr geschossen als ich. Aber er übt ja auch,
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