Die Frau im Tal
sind.«
»Es war Anja?«
»Ja.«
»Der Name auch«, sagt sie.
»Denk nicht weiter darüber nach.«
»Das muß ich aber. Ich will nicht jemandem ähneln. Und schon gar nicht jemandem, der tot ist.«
Ich überlege lange.
»Anja hat sich danach gesehnt, von etwas wegzukommen«, sage ich schließlich. »Ich glaube jedenfalls, daß es so war. Sie haben zuviel von ihr erwartet, zu früh in ihrem Leben.«
»Wer sind sie ?«
»Ihre Eltern, genauer ihr Vater. Und die Klavierlehrerin. Anja gewann den Juniormeister Klavier, bevor sie sechzehn war.«
»Hast du mit ihr gevögelt?«
»Ja. Nein, nicht so. Wir haben miteinander geschlafen,aber sie war nicht richtig dabei, wenn du verstehst, was ich meine. Sie hatte keinen Spaß dabei. Die Musik war wie eine Wand zwischen ihr und dem Leben. Die Musik gab ihr die Freiheit, die man in einem Gefängnis empfindet. Nach einiger Zeit kann man nicht mehr ohne die Gitterstäbe existieren.«
Tanja Iversen nickt. »Ja, das verstehe ich. Freiheit, die erst besteht, wenn ein Rahmen da ist.«
»Genau.«
»Mama und Papa fühlen sich frei in ihrer Kirche. Die Kirche sagt ihnen tausend Dinge, die sie nicht tun dürfen. Deshalb lieben sie das wenige, das sie tun können .«
Ich mustere sie, während sie redet. Sie ist jetzt ernst und konzentriert. »Vielleicht beneide ich Anja«, sagt sie. »Weil sie das tun konnte, was ihre Eltern mochten. Ich dagegen war nur aufsässig und böse, weil ich weder mit ihrem Gott noch mit ihrer Kirche etwas zu tun haben wollte. Ich mußte meinen eigenen Weg gehen. Aber auf solchen Wegen gibt es leider keine Lehrer. Abgesehen von den Kerlen. Die waren immerhin für einfachere Aufgaben brauchbar.«
»Ist es dir egal, mit wem du ins Bett gehst?« frage ich.
»Nein. Aber womit sollen wir uns verdammt noch mal die Zeit vertreiben?« Sie schlägt ein vielsagendes Cluster ins Klavier.
»Weiter so!« sage ich. »Behalte deinen Trotz! Aber um auf das letzte zu antworten: Du könntest ja Bücher lesen. Du hättest Gitarre lernen können. Das kann auf Dauer ein sinnvoller Zeitvertreib sein.«
»Bücher und Musik waren doch verboten!« sagt sie wütend. »Zu Hause im Bücherregal durfte nur die Bibel stehen!«
»Wie kam es dann, daß sie dich auf diese Schule schickten?«
»Sie hatten keine andere Wahl. Das Jugendamt hat eingegriffen.«
»Was hast du angestellt?«
»Ich bin abgehauen, mit einem LKW-Fahrer nach Ivalo in Finnland. Er sagte, er sei Goldgräber. Er versprach mir pures Gold, wenn ich machte, was er wollte.«
»Was wollte er?«
»Blöde Frage.«
»Hat es dir gefallen?«
»Ich habe mich mit der Zeit daran gewöhnt. Aber es gibt keinen Grund, die Sache im Kalender rot anzustreichen, um es so auszudrücken.«
»Du dachtest an all das Gold?«
»Verspotte mich nicht. Natürlich glaubte ich nicht an diese Geschichten. Ich wollte nur einfach weg. Er war auf seine Weise nett. Wir wohnten in einem kleinen Hotel in Ivalo. Schon im Hotel leben war herrlich. Wir waren in Finnland. Einem anderen Land. Eine andere Sprache. Ich glaube nicht, daß du verstehst, was das heißt, wenn man noch nie weg war von daheim. Wenn man sich wie wahnsinnig danach gesehnt hat, weit fortzukommen.«
»Ich bin auch kaum von daheim weg gewesen.«
»Red keinen Quatsch. Du hast eine Tournee an der Finnmarkküste hinter dir. Außerdem bist du aus Oslo. Ich könnte es ohne weiteres das ganze Leben in Oslo aushalten.«
»Davon hast du keine Ahnung. Das ist anders, als du denkst. Alles nicht so aufregend. Vielleicht sind unsere Leben letztlich gar nicht so verschieden.«
»Na ja. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß du schon so intensiv gevögelt wurdest wie ich. So siehst du einfach nicht aus.«
»Es gibt viele Arten, gevögelt zu werden, wenn du schondas Wort benutzen mußt. Gehirnvögeln ist auch eine Methode.«
»Das ist das, was meine Eltern praktizieren! Du solltest sie erleben, wenn sie in ihrer Kirche sitzen und sich erregen. Wenn sie die Arme in die Höhe strecken und schreien. Da geht es ab bei ihnen, das schwöre ich. Hundertprozentig. Und dann ihre blöde, unerträgliche Musik. Mama kommt nach diesen Veranstaltungen immer mit einem Ausschlag am Hals nach Hause. Und Papa hat feuchte Lippen. Das kotzt mich an.«
»Was hat das Jugendamt unternommen?«
»Sie haben einen Bericht geschrieben. Daß ich schwer erziehbar sei. Und daß ich in ein Internat müsse.«
»Deshalb kamst du hierher?«
»Ja, zum Glück. Hier habe ich die Hoffnung noch nicht verloren, daß
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