Die Frau im Tal
doch noch etwas Großes passieren wird.«
»Wir können also sagen, daß sich Anja danach gesehnt hat, aus etwas herauszukommen, während du dich danach sehnst, in etwas hineinzukommen. Einverstanden?«
»Sag, was du willst«, sagt Tanja und kaut auf ihren Nägeln herum.
»Die ewige Entsprechung von Disziplin und Chaos«, sage ich und höre, wie altklug das klingt. Ein Echo von Selma Lynges Stimme. Trotzdem kann ich nicht damit aufhören. »Wir brauchen die Disziplin, aber wir brauchen auch Chaos. Meine Mutter war ein Ordnungsmensch. Sie ging jeden Tag zur Arbeit. Sie putzte jeden Samstag vormittag das Haus. Der Sonntag gehörte ihr allein. Da trank sie. Da feierte sie die vergangene Woche. Da spielte sie Brahms in voller Lautstärke. Da warf sie Vater alles an den Kopf, was sich seit dem letzten Mal in ihr aufgestaut hatte. Als würde sie ganz bewußt alles dransetzen, die Kontrolle zuverlieren. Und wenn sie die Kontrolle nicht verlor, baute sich eine Spannung im Haus auf, die früher oder später zur Entladung kommen mußte .«
»Und was geschah dann?«
»Zum Beispiel ihr letzter Tag. Ja, was geschah da?«
Ich zögere. Dann versuche ich, Tanja Iversen zu erzählen, wie Mutter gestorben ist. Ich habe das schon oft anderen erzählt. Aber diesmal verstehe ich zum erstenmal selbst, was ich sage. Und diesmal wird die Geschichte fürchterlich. Die Wörter geraten durcheinander. Der Unglückssonntag taucht in meiner Erinnerung auf. Ich erinnere mich an das Licht am Morgen. Ich erinnere mich an Brahms’ vierte Sinfonie im Radio. Ich erinnere mich, daß Cathrine Früchte des Zorns von Steinbeck las. Ich erinnere mich, wie wir zum Zigeunerfelsen im Fluß gingen, um zu baden. Ich erinnere mich, daß wir sahen, daß die Strömung zu stark war. Ich erinnere mich an die zwei Flaschen Rotwein und daß Mutter zu früh mit dem Trinken anfing. Ich erinnere mich an das Schwarze in ihren Augen, als sie darauf bestand, trotzdem im Fluß zu baden. Ich erinnere mich an Vaters Angst, als sie in die Strömung geriet, als sie versuchte, sich an den Steinen festzuklammern, als sie sich nicht halten konnte. Ich erinnere mich, wie sie auf den Wasserfall zutrieb, wie Vater sie mit einer Hand festhalten wollte, wie beinahe auch er von der Strömung erfaßt worden wäre, hätte ich ihn nicht gepackt und ihn gerettet, meinen Vater, zu dem ich keine engere Beziehung hatte, wodurch ich aber Mutter tötete, ohne die ich nicht leben konnte. Ich tötete sie, weil ich Vater zurückhielt, weil wir alle Panik hatten, weil Cathrine dastand und schrie.
»Und danach«, sagte ich, »war mein Leben untrennbar verbunden mit dieser Umgebung. Mit dem Tal und demFluß. Als hätte ich nie einen Grund gehabt, woandershin zu gehen. Auch jetzt nicht. Und trotzdem bin ich hier.«
Ich rede zu Tanja Iversen, erzähle ihr eine Geschichte, die ich bis jetzt nie verstanden habe. Die gar keine Geschichte ist, die für andere eigentlich gar nicht faßbar ist. Und wie ich Tanja da auf dem Klavierhocker sitzen und warten sehe, daß ich ihr etwas Wichtiges beibringe, wird mir klar, daß ich nicht ihr Lehrer sein kann. Ich glaube ja nicht einmal selber an das, was ich einmal gelernt habe! Als sei ich durch Traumbilder gejagt worden, durch Motive, die mich an eine Umgebung fesselten, die zu verlassen mir unmöglich war. Fühlte ich mich deshalb zu Anja hingezogen? Nur weil sie im Elvefaret wohnte, in der Verlängerung des Melumveien, der Straße meiner Kindheit? Konnte ich mich deshalb nach ihrem Tod nicht von dieser Umgebung losreißen, als ich es mehr oder weniger unbewußt vorzog, ein Zimmer bei Anjas Mutter zu mieten, statt ungebunden in meiner eigenen Wohnung zu leben, die mir mein Klavierlehrer Synnestvedt vererbt hatte?
»Ich bezog mich in erster Linie auf Menschen, denen es gefiel, daß ich Klavier spielte«, sage ich zu Tanja. »Nur durch das Instrument wurde ich sichtbar. Und die intensivste Beziehung hatte ich zum Skoog-Haus, dessen Mittelpunkt der Steinway-Flügel war. Dort wurde ich sichtbar. Dort war ich jemand. Und das alles ist mir erst jetzt bewußt geworden, wie ich dich da am Klavier sitzen sehe, und du glaubst oder hoffst, ich könnte dir etwas beibringen.«
»Bring mir etwas bei«, sagt Tanja leise.
Sie sitzt mit krummem Rücken da und hört mir zu. Was von meiner Geschichte hat sie eigentlich begriffen, denke ich.
»Vielleicht kann ich dir etwas beibringen«, sage ich. »Aber ich weiß nicht, was.«
»Zeige mir einfach, wie du Klavier
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