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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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spielst«, sagt sie.
    »Setz dich auf meinen Schoß«, sage ich.
    »Gerne«, sagt sie und steht auf.
    Ich setze mich auf den Klavierhocker. Sie setzt sich auf mich. Dann beginnt sie zu lachen.
    »Kein schlechter Lehrer!« sagt sie munter.
    »Konzentriere dich jetzt«, fauche ich und spüre die brennende Röte im Gesicht.
    »Klar«, kichert sie.
    »Bach«, sage ich. »Um ihn kommen wir nicht herum.«
    Sie bewegt sich provozierend auf meinem Schoß hin und her.
    »Hör auf!« rufe ich streng.
    »Ich mach doch nichts.«
    »Bach«, sage ich. »Konzentriere dich, habe ich gesagt!«
    »Auf was soll ich mich konzentrieren?«
    »Lege deine Finger auf meine. Ja, so.«
    Sie tut, was ich sage. Ich beginne mit dem langsamen Präludium in cis-Moll aus dem zweiten Teil des »Wohltemperierten Klaviers«. Es ist ausdrucksstark und zugleich kontrolliert. Sie schmiegt sich fest an mich, spürt, wie sich meine Finger über die Tasten bewegen. Sie ist ganz Ohr. Ich möchte, daß sie versteht, welche Bewegungen nötig sind, um dieses Instrument zu spielen. Sie ist wie ein kleines Mädchen auf meinem Schoß. Aufmerksam und lernbegierig. Sie folgt genau den rhythmischen Bewegungen, mit ihren Fingern auf meinen, spielerisch und leicht, ohne mich zu behindern.
    Da höre ich, wie sich etwas hineinmischt in die Musik. Es ist ihre Stimme. Tanja Iversen singt. Zuerst kaum hörbar. Dann wird der Gesang lauter, sicherer. Sie singt nichtdie Melodie, denn die kennt sie nicht. Aber sie singt im Einklang mit den Harmonien. Sie singt eine Unterstimme in cis-Moll. Tanja Iversens Variationen über ein Thema von Bach. Ich kann kaum glauben, was ich da höre. Sie singt, ohne daß ihr bewußt ist, was sie tut. Sie öffnet kaum den Mund. Sie tut das nicht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie tut es ausschließlich für sich.
    Dann stoppt sie. Sie merkt, daß ich zuhöre.
    »Sing weiter, Anja«, sage ich.

    Sagte ich wirklich Anja? Hat sie es gemerkt? Sie tut jedenfalls so, als sei nichts gewesen.
    Ich bin jetzt fertig mit dem Präludium.
    Aber sie singt weiter, spinnt das Präludium fort, ohne die Stimmung zu ändern, ohne etwas bewußt zu wollen. Sie ist in der Musik. Sie hat die Augen geschlossen. Ich sitze ganz ruhig, weiß nicht wohin mit den Händen. Ich darf sie jetzt nicht stören. Sie hat sich von meiner Vorgabe frei gemacht. Sie wagt sich weiter auf eigene Faust. Sie wagt es, den Raum ganz und gar zu füllen. Als wisse sie intuitiv um meine Zustimmung zu dem, was sie tut. Es erklingt ein Gesang in der Klosterzelle. Ihre Stimme ist transparent und voll zugleich. Sie verfügt über ein großes Register, improvisiert plötzlich fast drei Oktavlagen. Ohne schrill zu klingen, geht sie vom Kopfins Brustregister und in die Altlage, was ihr kein Lehrer beibringen könnte.
    Sie singt, um etwas zurückzugeben, denke ich. Ich benutzte Wörter, um ihr ein Ereignis zu schildern. Jetzt benutzt sie die Stimme für eine andere Geschichte. Sie sitzt auf meinem Schoß, und ich darf sie nicht festhalten, stören oder unterbrechen. Sie singt sich an einen anderen Ort ihres Lebens. Sie singt sich fort von etwas, das war. Sie singt, bewegt von ihrer eigenen Stimme, ihrem eigenen Ausdruck.Sie singt überrascht, fast erschrocken über das, was sich in ihr findet, so viele Jahre unentdeckt. Sie singt sich hinein in andere Möglichkeiten, andere Gegenden als die, die sie bisher kennengelernt hat. Und mein einziger Gedanke ist, daß das einfach geschieht, daß es selbstverständlich ist wie eine Geburt. Sie weiß noch nicht, was sie da entdeckt hat. Sie weiß nicht, wie wichtig dieser Tag für sie ist. Und ich denke an all die Tage, die ich geübt und geübt habe, um etwas lebendig werden zu lassen von der Begeisterung, die ein längst verstorbener Komponist empfunden haben mußte, das Unmittelbare, wenn sich die Idee kristallisiert, wenn sich die Melodie konkretisiert, wenn alle Noten ihre Form finden. Durch einen Dschungel von Wissen und Theorie wurde die Musik auf das Notenpapier gebracht und danach von Menschen zum Leben erweckt, die den Komponisten nicht einmal kannten. Aber jetzt, in einem schlichten Zimmer der Internatsschule von Svanvik, an der Grenze zur Sowjetunion, verbindet die achtzehnjährige Tanja Iversen Komponieren und Interpretieren. Sie sitzt auf meinem Schoß und singt für mich. Aber es gibt keinen Grund, weiter auf meinem Schoß zu sitzen. Sie braucht nicht mehr spüren, wie sich meine Finger bewegen. Sie braucht nicht mehr das alte braune Klavier mit den

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