Die Frau im Tal
unter die Tasten geklebten Kaugummis. Sie hat alles in sich. Sie kann getrost aufstehen und im Zimmer herumgehen, mit geschlossenen Augen wie in Trance. Aber sie bleibt sitzen, bricht plötzlich in Schluchzen aus und versucht zu verstehen, was gerade geschehen ist. Sie weiß nicht, daß die Unterrichtsstunde vorbei ist, daß ich nur dazu da bin, ihr zu gratulieren, sie zu trösten und ihr übers Haar zu streichen, daß ich ihr nichts, aber auch gar nichts beibringen kann.
Im Bungalow mit Eirik Kjosen
Nachdem sie gegangen ist, bleibe ich in Gedanken versunken sitzen.
Was sie gemacht hat, hätte ich nie fertiggebracht. Ohne jede Vorbildung lehrte sie mich etwas, das ganz anders war, als wir beide geglaubt hatten. Gabriel Holsts Stimme ist wie ein Echo im Zimmer. Was er mir zu sagen versuchte. Was ich nie ganz verstand.
Ich erhebe mich und trete ans Fenster. Weiß bedeckt der Schnee das Tal. Ein intensiver, bläulicher Schein hat sich auf das Land gelegt. Ich weiß, daß ich mich ans Klavier setzen und Rachmaninow üben müßte. Ich habe keine Zeit für weitere Störungen.
Es klopft an der Tür.
»Wer da?« rufe ich unwillig.
»Eirik.«
Natürlich, denke ich. Er will mich jetzt einwickeln. Will mehr von mir wissen. Vielleicht hat Sigrun ihn beauftragt.
Da steht er. In Jeans und Holzfällerhemd. Das jungenhafte Lächeln. Der offene und zugleich etwas unruhige Blick. Es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen. Nicht schwer zu erraten, was Sigrun an ihm fand. Er wird sie auf Händen durch den Rest ihres Lebens tragen, wenn sie es nur will.
»Alles in Ordnung mit dir?« fragt er besorgt.
Ich nicke. »Ist Sigrun schon gefahren?«
»Ja. Ich soll dich grüßen. Sie sagte, ich soll gut auf dich aufpassen.«
»Komm rein«, sage ich.Sigrun ist nicht mehr hier, und sofort wird es seltsam leer. Die Energie ist jetzt an einem andern Ort. Pasvik ist nicht mehr Pasvik.
»Es ist jedesmal komisch, wenn sie fährt«, sagt er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die Tage müssen immer neu ausgefüllt werden, wenn sie weg ist. Aber ich bin daran gewöhnt. Ich habe meine Schüler. Und ich habe die Natur. Ich dachte, du könntest mit hinaufkommen in den Bungalow?«
Ich zögere. Er merkt es.
»Vielleicht könnten wir miteinander reden«, sagt er. Lockt er jetzt mit kumpelhaften Vertraulichkeiten? Geständnissen oder Offenbarungen?
»Kann ich dort oben Wodka trinken?« frage ich.
»Wenn es unbedingt sein muß«, sagt er nervös und senkt den Blick. »Brauchst du das wirklich? Komm jetzt.«
Auf dem Weg hinauf durch das Kiefernwäldchen erzähle ich ihm von Tanja Iversen. Wie sie bei den Bach-Akkorden zu singen anfing. Zuerst zögernd. Dann sicherer. Und mit einem zutiefst befreiten Weinen endete. Eirik Kjosen hört aufmerksam zu.
»Das, was dir heute mit ihr gelungen ist, versuchen wir seit einem ganzen Jahr«, sagt er.
»Das war nicht ich«, sage ich. »Das einzige, was ich ihr anbot, war mein Schoß. Und meine Finger. Sie machte alles allein.«
»Du hast die richtigen Knöpfe gedrückt«, sagt er zufrieden.
Ich hätte ihm gerne erzählt, daß es nicht allein der Druck meiner Finger war, den sie spürte. Aber das wäre zu primitiv gewesen. Ich darf nicht vergessen, was für eineprivilegierte Stellung ich hier an dieser Schule habe. Weil Eirik den Vorschlag machte, daß ich unterrichten soll, bin ich fast wie ein Teil des Lehrerkollegiums. Wenn ich will. Sie sind freundlich zu mir. Freundlicher, als ich es verdiene. Wie Eirik Kjosen neben mir durch den Schnee stapft, glücklich und zufrieden, weil er mich überredet hat, mitzugehen, kommt er mir vor wie einer aus meiner Jugendclique in Oslo, fremd und vertraut zugleich. Ich habe keine Ahnung von seiner Welt. Ich habe keine Ahnung von Sport. Trotzdem können wir miteinander reden, weil auch er Musik macht. Weil er einmal Francks Klavierquintett gespielt hat. Weil er mit Sigrun verheiratet ist.
Es ist seltsam, hier ohne sie zu sein. Ich sitze auf Sigruns Platz. Ich weiß noch nicht, wie nahe ich Eirik an mich heranlassen möchte. Ich sitze mit übereinandergeschlagenen Beinen und schaue zum Fenster und fühle mich verlegen. Als seien meine Empfindungen zu offensichtlich. Als könne er sie erkennen und entlarven, ohne daß ich ein Wort sage.
Aber vorerst läßt er sich nichts anmerken. Er steht in der Küche. Er holt eine Flasche Wodka und zwei Gläser, stellt sie auf den Couchtisch und schenkt uns beiden ein.
»Ich dachte, du trinkst nicht«, sage ich.
»Die Lehrer
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